„Der Journalismus produziert seine Kritiker und Gegner selbst“
Wolfgang Storz im Interview über seine Studie zur „Querfront“ und die Entstehung einer Gegenöffentlichkeit
Die Verbreiterung des Meinungsspektrums in den großen deutschen Medien ist für Wolfgang Storz „unabdingbar.“ „Kommt diese Verbreiterung nicht bald und sichtbar, wird das Misstrauen gegenüber den klassischen Medien noch stärker werden und ihre Gegner noch zahlreicher“, sagt der ehemalige Chefredakteur der Frankfurter Rundschau im Interview mit Telepolis. Storz ist der Autor einer aktuellen Studie der Otto Brenner Stiftung, die sich mit dem Phänomen „Querfront“ auseinandersetzt. Bei seiner Arbeit hat Storz bemerkt, dass eine Gegenöffentlichkeit entstanden ist, die sich eine Art eigenes Mediensystem geschaffen hat. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA betrachtet Storz „unverändert als eines der identitätsstiftenden Themen“ für die Gegenöffentlichkeit – neben weiteren Themen, die in den großen Medien nicht oder nur am Rande aufgegriffen werden.
Herr Storz, wann haben Sie das erste Mal festgestellt, dass es eine Art Gegenöffentlichkeit in Deutschland zu bestimmten gesellschaftspolitischen Themen gibt?
Wolfgang Storz: Ich schicke vorweg, dass ich bei einer Gegenöffentlichkeit unterstelle, dass auf Dauer angelegte mediale Strukturen vorhanden sind, dass die Akteure nicht nur ein, sondern mehrere bedeutende Themen bearbeiten und dass es von den Akteuren eine bewusste Abgrenzung zu den klassischen Medien gibt, welche die veröffentlichte Meinung, den Mainstream, in hohem Maße prägen. So bin ich erst vor etwa fünf, sechs Jahren beispielsweise auf den Kopp-Verlag aufmerksam geworden.
Ich stellte fest, dass Medien-Studien und Finanzmarktjournalismus, an denen ich beteiligt war, von einem Kopp-Onlinedienst immer sehr fleißig und zügig verlinkt worden sind. Als ich mal nachschaute, dachte ich: Na ja, kein Umfeld, in dem ich und wir uns wohlfühlen können.
Den Kopp Verlag kannten Sie also noch gar nicht?
Wolfgang Storz: Der Verlag war mir aufgrund von Zeitungsanzeigen als Name bekannt. Ich verband sein Profil jedoch lange mit den Themen Esoterik, Außerirdische, germanische Medizin oder was auch immer, jedoch nicht mit Themen der Politik, der Wirtschaftspolitik und Medien, mit dem Thema Euro oder 9/11. Das habe ich erst damals registriert.
Ähnlich ging es mir mit dem Monatsmagazin „Compact“, das ja bereits 2010 gegründet worden ist. Das entdeckte ich vielleicht vor zwei, drei Jahren an Bahnhofskiosken. Aber auch da dachte ich: Kann eine Eintagsfliege sein, so wie das bei Printprodukten nicht selten und bei Angeboten im Netz sehr oft der Fall ist, also das ist in einem Jahr vermutlich wieder untergegangen. Das war dann nicht der Fall, im Gegenteil.
In Ihrem Arbeitspapier erwähnen Sie den Begriff „Gegenöffentlichkeit“ auch.
Wolfgang Storz: Ja.
Sie sagen, dass Sie auf diese Gegenöffentlichkeit vor etwa vier, fünf Jahren aufmerksam geworden sind. Also ziemlich spät, oder? Denn diese Gegenöffentlichkeit gibt es schon viel länger.
Wolfgang Storz: Sie haben Recht, verglichen mit Ihnen bin ich ein eindeutiger Spätzünder. Wie kann ich mich „rechtfertigen“ beziehungsweise diese Fehleinschätzung erklären? Das kann eben mit der Definition von Gegenöffentlichkeit zu tun haben, wie ich sie oben skizziert habe. Auch damit, dass mit den neuen Techniken für diejenigen, die selbst Angebote im Netz produzieren wollen, die Anforderungen an den Einsatz von Ressourcen so gering geworden sind. So explodieren diese Angebote in den vergangenen zehn Jahren geradezu. Wer hat da noch den Überblick?
Insofern sind mir Akteure erst aufgefallen, wenn es Wiederholungen gibt: Also jemand produziert über Jahre Videos und betreibt ein Medien-Portal, erwirbt sich bei seinem Publikum damit Reputation und schafft es, dieses zu vergrößern. Oder ein mittelständischer Verlag bringt über Jahre Bücher und weitere Medien zu bestimmten Themen heraus. Oder ein Printmagazin wird an die Kioske gebracht. Das ist ja eine weitaus größere finanzielle und logistische Leistung, beispielsweise verglichen mit der Anstrengung, für einige Monate einen Blog zu betreiben.
Das hat bei mir also ziemlich gedauert zu erkennen: Da gibt es Medien-Produzenten, die so leistungsfähig sind, dass ihre Arbeit auf Dauer angelegt ist und denen es sogar gelingt, wohl aufgrund der kaufkräftigen und nicht-kaufkräftigen Nachfrage, ihre Angebote über Jahre hinweg sogar auszuweiten. Medien-Produzenten, die sich auf Themen und Perspektiven konzentrieren, die von den traditionellen Medien nur am Rande oder gar nicht behandelt werden.
Haben Sie sich denn dann im Zuge Ihrer Auseinandersetzung mit diesen alternativen Formaten auch mal Gedanken über das eigene Rezeptionsverhalten gemacht? Anders gefragt: Haben Sie darüber nachgedacht, warum Sie nicht schon viel früher auf diese Formate gestoßen sind? Denn, wie gesagt, dieses Phänomen, dass sich eigenständige Publikationsplattformen mit alternativen Themen herausbilden und inhaltlich gegen die großen Medien opponieren, gibt es schon seit vielen Jahren.
Bereits nach dem 11. September ist eine Art Glaubwürdigkeitsbruch entstanden. Mediennutzer haben einfach die Deutungsnarrative zu 9/11, wie sie von den großen Medien produziert wurden, abgelehnt und sich alternativen Formaten, die im Internet zu finden waren, zugewendet. Bereits damals hat sich eine Gegenöffentlichkeit formiert. Sie war nur thematisch eher auf 9/11 begrenzt. Doch diese Gegenöffentlichkeit hat sich weiterentwickelt. Sie ist nicht mehr thematisch eng begrenzt. Sie fokussiert auf ein immer breiteres Spektrum an Themen.
Wolfgang Storz: Selbstverständlich habe ich die 9/11-Mediendebatte registriert, die Bestseller von Andreas von Bülow, Matthias Bröckers und vielen anderen waren ja nicht zu übersehen. Aber im Gegensatz zu Ihnen und vermutlich vielen anderen habe ich zwei Punkte anders und damit eventuell falsch eingeschätzt. Ich sah eine Auseinandersetzung um ein Thema und Ereignis, ein besonders spektakuläres und folgenreiches, aber eben um ein Thema. So habe ich die Weiterentwicklung und Verbreiterung, die Sie anführen, nicht bewusst wahrgenommen. Sicher habe ich hier und da mal etwas registriert, aber dann wieder beiseite gelegt.
Ich erzähle Ihnen ein weiteres Beispiel: Ich habe einige Jahre, zwischen 2007 und 2010, an Universitäten als Lehrbeauftragter zu dem Thema Politik und Massenmedien gearbeitet. Als der erste Student in einem Kurs sagte, ob wir nicht einmal über die Entwicklung arbeiten könnten, dass sich immer mehr Bürger bewusst grundsätzlich von den klassischen Medien abwenden würden, da war ich überrascht. Und ich habe das, nach einer längeren Unterhaltung mit den Studenten darüber, auch nicht weiter ernstgenommen. Für mich gab es Desinteresse an Medien und Kritik an ihnen, aber keine nennenswerte bewusste Gegnerschaft.
Ich habe fast 20 Jahre, mit wenigen Jahren Unterbrechung, bis 2006 als Journalist für traditionelle Medien gearbeitet. Das hat bei mir Blickwinkel erweitert, aber sicher eben auch verstellt. So habe ich, im Gegensatz zu Ihnen, eindeutig auch unterschätzt, wie bis heute das Thema 9/11 ein Treiber und Identitätsstifter für diese Gegenöffentlichkeiten ist. Ich habe dies nie als grundsätzlichen „Glaubwürdigkeitsbruch“ eines Teils des Publikums, so wie Sie das sehen, mit den traditionellen Medien gesehen.
Eint diese, oder womöglich: mehrere Gegenöffentlichkeiten, die es gibt, nicht auch die Tatsache, dass sie viele große gesellschaftliche und politische Themen anders deuten, als es die großen Medien tun?
Wolfgang Storz: Was sicher eint, ist die Feststellung: Unsere Themen oder unsere Perspektiven kommen in diesen Medien nicht vor oder nur am Rande. Beispiel: Jemand, der die Euro-Währung und ihre Folgen kritisiert, der findet sicher immer wieder Platz in den Medien. Aber grundsätzliche Euro-Gegner, die also die Einführung im Prinzip für falsch halten, die wurden nach meiner Beobachtung in den vergangenen Jahren sicher nicht wahrgenommen oder als Vorgestrige abgetan. Ein anderes Beispiel haben Sie eingeführt: 9/11. Ein drittes ist sicher: Verlauf, Hintergründe und Ursache der Ukraine-Krise.
Was ich feststelle: Mindestens große Teile dieser Gegenöffentlichkeiten gehen von der These aus, wir haben es hier in Deutschland mit keiner Demokratie mehr zu tun. Es herrschen Eliten, die im Bündnis mit den Medien, die wiederum nicht frei sind, versuchen, die Wahrheit zu unterdrücken und im Zweifel gegen das Volk regieren. Was diese Öffentlichkeiten auch eint, nach meiner Bewertung: Es handelt sich hier fast ausschließlich um Akteure mit einem inhaltlich-politischen Anliegen, die mit journalistischen Instrumenten arbeiten. Aber sie arbeiten nicht als Journalisten. Ihr Ziel ist es ja, der eigenen Deutung Gehör zu verschaffen.
Dagegen ist es eine der wichtigen Normen des journalistischen Berufsstandes, zu einem Ereignis oder einem Thema die wichtigsten Informationen zu Nachrichten zu verarbeiten und diese zusammen mit einer Darstellung der wichtigsten Interessen und Deutungen seinem Publikum zur Verfügung zu stellen. Da gibt es Defizite in der Praxis, teilweise erhebliche, richtig, aber der Anspruch bleibt und das Bemühen von vielen Journalisten, dieser Norm möglichst gerecht zu werden.
Sie haben in Ihrer Studie festgestellt, dass diese Gegenöffentlichkeit gar nicht das Ziel hat, in die großen Medien zu kommen. Wie meinen Sie das?
Wolfgang Storz: Früher war es das Ziel von Organisationen und Initiativen, mit ihren Informationen und Positionen in den Medien zu kommen. Denn diese waren der einzige relevante Transporteur. Das ist heute grundsätzlich anders. Die Erfolge der Gegenöffentlichkeiten zeigen ja, es geht ohne diese traditionellen Medien. Das heißt, dieser Zwang ist weg. Sich auf die Verbesserung und Verbreiterung der eigenen Medien zu konzentrieren, steht im Vordergrund. Wenn dann die eigene Arbeit so erfolgreich ist, beispielsweise gemessen an Resonanz, dass wiederum die klassischen Medien gezwungen sind, von sich aus auf Themen dieser Gegenöffentlichkeiten einzugehen oder gar auf diese selbst, dann wird das gerne gesehen, selbstverständlich. Insofern haben diese Gegenöffentlichkeiten übrigens objektiv gesehen auch immer die gesellschaftliche Funktion von Frühwarnsystemen, sie machen auf Defizite aufmerksam. Aber: Von diesen klassischen Medien wahrgenommen zu werden, das ist heute im Gegensatz zu früher eher ‚Abfallprodukt‘ der eigenen Arbeit, nicht das erste Ziel. Zumal jedes positive Eingehen der klassischen Medien auf die eigenen inhaltlichen Anliegen der eigenen Attraktivität schaden kann, speist sich diese doch wesentlich auch aus dieser Ausgrenzung von Seiten der herkömmlichen Medien.
Denken wir doch mal zurück an die Anfänge der Gegenöffentlichkeit, die vermutlich ihren Ursprung nach dem 11. September 2001 hat. In den ersten Jahren nach den Anschlägen, als sich die Gegenöffentlichkeit formiert hat, war es durchaus so, dass ihre Mitglieder versucht haben, die alternativen Sichtweisen in die Medien zu tragen. Sie wollten in die großen Medien, um ihrem Thema Gehör zu verschaffen. Sie haben sich im Internet laut darüber beschwert, dass die großen Medien ihnen den Zugang zum medialen Diskurs nicht erlauben. Irgendwann haben sie bemerkt: Diese Tür ist tatsächlich so fest verschlossen, da ist kein Durchkommen, mit den Medien in den Dialog zu kommen, ist „vergebene Liebesmüh.“
Kann es sein, dass es zu einer Art Emanzipation gekommen ist? Anders gesagt: Liegt die Schlussfolgerung nahe, dass Mitglieder der Gegenöffentlichkeit erkannt haben, dass sie, wenn sie ihre Thesen weiter verbreitet sehen möchten, einfach ihre eigenen Formate schaffen müssen?
Wolfgang Storz: Aufgrund Ihrer Schilderung liegt der Schluss nahe: Die Kritiker wurden müde, haben ihre Anstrengungen als vergeblich erkannt und gingen dazu über, ihre Energie in den Aufbau von eigenen medialen Strukturen zu investieren, was eben seit ein, zwei Jahrzehnten aufgrund der neuen Techniken mit viel geringeren Ressourcen möglich ist, als vor 20 oder 30 Jahren. Und innerhalb der vergangenen 20 Jahre haben sich natürlich die Bedingungen noch einmal drastisch verbessert: Wie bereits erwähnt: Beste Techniken sind noch viel billiger als noch vor Jahren zu erwerben und zudem noch einfacher zu handhaben.
Woher kommt heute nun die geballte Kritik an dem Medien?
Wolfgang Storz: Ich glaube, eines der großen Probleme ist, dass Medien die Kritik an ihnen punktuell wahrnehmen, eventuell auch ernstnehmen, aber dann weglegen und vergessen. Und dann kommt die nächste Kritik.
Was meinen Sie damit?
Wolfgang Storz: These: Das Publikum oder wenigstens ein Teil davon addiert, der Journalismus vergisst.
Ok?
Wolfgang Storz: Also: Es kann doch sein, dass Journalisten zu schnell Kritik an ihnen vergessen und ihnen nicht bewusst ist, dass nennenswerte Teile des Publikums dagegen nicht vergessen, sondern sich erinnern und die Kritikpunkte addieren – bis sie davon überzeugt sind, ob zu Recht oder zu Unrecht: Da steckt ja System dahinter. Das könnte beides wenigstens zum Teil erklären: Zum einen die Wucht der Kritik über die Ukraine-Berichterstattung, da hat sich einiges angestaut, und zum anderen die buchstäbliche Fassungslosigkeit mancher Journalisten über diese Kritik, die für sie wie eine Naturgewalt über sie hereingebrochen ist.
Nehmen wir Ihr Beispiel: 9/11. Auch Umfragen belegen, nennenswerte Minderheiten in der Bevölkerung misstrauen der US-regierungsoffiziellen Version der Abläufe. Das heißt ja nicht einmal, dass gleich den Kritikern geglaubt wird. Aber das Gefühl bleibt: Da stimmt etwas nicht, und in meinen traditionellen Medien lese ich nichts darüber.
Dann gab es eine Phase nach dem Jahr 2000, in der die prägenden Medien Berichterstattung und Meinungen sehr stark auf das Negative am Sozialstaat und den Gewerkschaften und auf das Positive an marktradikalen Konzepten verengten. Repräsentative Umfragen zeigten damals, dass große Mehrheiten der Bevölkerung das ganz anders sahen. Dann kommen hinzu Euro-, dann Ukraine- und Russlandberichterstattung. Nicht zu vergessen: Es gibt seit vielen Jahren Berufs-Rankings, bei denen der Berufsstand des Journalismus immer auf den hinteren Plätzen rangiert. Wenn ich als Journalist oder wenn der Berufsstand die Kritik zu den einzelnen Themen immer wieder buchstäblich vergisst, dann bin ich gar nicht in der Lage zu erkennen, dass sich da über viele Jahre etwas „zusammenbraut“, dass irgendwann Kritik im Einzelnen in grundsätzliche Abwendung oder passive oder gar aktive Gegnerschaft münden kann.
Wie bewerten Sie denn die Medienprodukte, die die Gegenöffentlichkeit hervorbringt?
Wolfgang Storz: Für das, was ich mir genauer angeschaut habe, gilt: Da gibt es eine hohe technische Qualität. Das Angebot ist auf Dauer angelegt. Nicht vergessen: Es handelt sich um Nischen, aber trotzdem halte ich die Resonanz für beträchtlich. Ich nenne zwei Beispiele: Ken Jebsen hat jüngst eine politische Gesprächsrunde organisiert, die bereits nach wenigen Wochen auf dem YouTube-Kanal mehr als 400.000 Klicks verzeichnet. Nun ist offen, was ein Klick letztlich bedeutet, auch sagt dies nichts aus, wie intensiv dieses mehr als zweistündige Gespräch angeschaut wurde. Aber ein Hinweis auf hohe Resonanz ist dies schon.
Und bei „Compact“, dem Monatsmagazin, das Jürgen Elsässer mitgegründet hat und als Chefredakteur leitet, ist die Nachfrage ebenfalls beachtlich. Nach Angaben von Elsässer beträgt die Auflage verkaufte 30.000 Exemplare. Da handelt es sich, etwa vier Jahre nach der Gründung, meines Erachtens um eine beachtliche kaufkräftige Nachfrage: Der Klick im Netz kostet mich nichts, für „Compact“ muss ich am Kiosk fast fünf Euro hinlegen. Und: Es ist festzustellen, dass es diesen Akteuren gelang, in den vergangenen Jahren ihre Angebote schrittweise auszubauen. Auch das deutet auf eine wachsende Nachfrage hin.
Die Rezipienten greifen jedenfalls auf diese Produkte zu.
Wolfgang Storz: Nach meinen Beobachtungen eindeutig ja. Fast korrespondierend mit dem nach Umfragen schwindenden Vertrauen in die klassischen Medien. Die Akteure selbst sehen sich zum Teil wenigstens auch bewusst als Produzenten von „Alternativ-Medien“.
Journalismus entscheidet erst einmal, was gesellschaftlich wichtig ist oder nicht
Vertreter großer Medien ziehen an der Stelle gerne einen „Joker.“ Sie verweisen darauf, dass sie dem Mediennutzer keinen Unsinn auftischen dürfen und berufen sich direkt oder indirekt auf ihre rationale Deutungsüberlegenheit.
Wolfgang Storz: Jeden Unsinn sollten sie nicht auftischen, das ist ja vollkommen richtig. Aber wenn ich merke, und das zeigt auch, wie segensreich das Netz mit seinen Möglichkeiten ist, da gibt es ein Thema, das viele Menschen beschäftigt, zu dem sie nachfragen, offizielle Darstellungen anzweifeln, zu dem sich möglicherweise sogar Bürger äußern, die als Fachleute gelten, dann ist der Berufsstand der Journalisten doch qua Aufgabe und eigener Normen geradezu gezwungen, sich mit Berichterstattung und Analyse um solche Hinweise zu kümmern, also egal ob Euro, 9/11, Ukraine oder Sozialstaat.
Er muss dann herausarbeiten: Wo passen die Fakten und Argumente von Kritikern und Befürwortern zusammen, wo widersprechen sie sich, welche Fragen bleiben ungeklärt und so weiter. Das ist die vornehmste Aufgabe der Journalisten. Bei vielen Themen geht er auch in diesem Sinne dieser Arbeit nach, das ist die Regel. Wie Journalisten etwas kommentieren und bewerten, das ist ja wieder eine ganz andere Frage; dann aber strikt getrennt und deutlich als Meinung auch markiert.
Das Netz, das sozusagen sekündlich, unaufhörlich Themen, Nachrichten und Meinungen produziert, macht doch den Berufsstand des Journalisten, der unabhängig arbeitet, endgültig unentbehrlich. Es muss eine legitimierte und anerkannte Instanz geben, die versucht, diese unübersehbar gewordene Kommunikationswelt nach Bedeutung der Themen, der Interessen und der Perspektiven zu sichten, um Überblicke zu liefern und für das Publikum Schneisen zu schlagen. Das ist der Vorteil, den die klassischen Medien den Rezipienten gegenüber dem Netz bieten.
Aber ist das wirklich pauschal ein Vorteil? Es kann ein Vorteil sein, aber nicht zwingend. Denn gerade durch Selektierung, Gewichtung und Perspektivierung entstehen viele Probleme. Ein Filter bzw. mehrere Filter werden den Informationen und Sachverhalten vorgeschoben und damit ist Gefahr einer Verzerrung groß. Gerade das Ungefilterte, so wie es im Internet zu finden ist, kann auch seinen eigenen Wert haben und gegenüber dem Gefilterten einen Vorteil haben, oder?
Wolfgang Storz: Ich stimme Ihnen zu mit dem Zusatz: Wie können wir – pauschal gesagt – das Verhältnis von klassischem Journalismus und Netz so organisieren, dass es nicht in einen Kampf gegeneinander mündet, sondern im Sinne und Dienste dieser Demokratie dabei gute Leistungen herauskommen.
Was heißt das?
Wolfgang Storz: Eine Demokratie lebt auch vom gemeinsamen öffentlichen Gespräch und Streit über bedeutende Themen. Das Netz produziert täglich 1000 Themen. So sichtet der Journalismus Informationen zu wichtigen Themen, und er entscheidet erst einmal, was gesellschaftlich wichtig ist oder nicht. Er verarbeitet die Informationen dazu zu belastbaren Nachrichten, auf die sich jeder beziehen können muss.
Denn für einen Streit brauche ich eine möglichst unstrittige informationelle Grundlage. Also: Das Zitat muss stimmen, die Zahlen müssen stimmen, das, was nicht geklärt werden kann, muss als strittig und ungeklärt markiert werden. Das kann nur ein in die jeweilige Sache Nicht-Involvierter machen. Diese Auswahl und Sichtung ist unabdingbar, sonst überwältigt uns die Unübersichtlichkeit, die in Handlungsunfähigkeit münden kann.
Und warum das Netz jetzt so toll ist: Mit ihm kann der interessierte Bürger die Arbeit des Journalismus heute viel eher überprüfen und korrigieren. Ist etwa ein wichtiges Thema anhaltend doch übersehen oder gar bewusst ausgegrenzt worden? Fehlt eine wichtige Information, eine wichtige Deutung? Das meine ich mit dem fruchtbaren Verhältnis im Sinne unserer Demokratie. Wenn allerdings der Journalismus anhaltend wichtige Korrekturbemühungen grundlos ignoriert, dann produziert er sich seine Kritiker und auf Dauer seine Gegner selbst.
War früher alles besser?
Wolfgang Storz: Nein, im Gegenteil. Wir haben heute viel mehr Öffentlichkeit. Wir haben nur“ noch das allerdings große Problem, dieses ungeheure Mehr produktiv und positiv zu nutzen. Wir stecken viel zu viel Energie in unfruchtbare Gegnerschaften: Wenn bei der Arbeit des Journalisten ein Fehler gefunden wird, dient dies nicht der gemeinsamen Arbeit, die Nachrichten-Grundlage noch zuverlässiger zu machen, der Fehler dient zu oft als Beleg, dass die Medien Büttel der Eliten sind. Ich füge jedoch auch an: Als jemand, der 1980 sein Zeitungs-Volontariat gemacht hat, habe ich manchmal den Eindruck, dass früher Journalisten die Trennung von möglichst wenig wertenden Nachrichten- und Berichtsformen und der wertenden Kommentierung ernster genommen haben. Dass das Publikum dies will, steht übrigens in zahllosen Untersuchungen, welche die Medien ja regelmäßig über sich anstellen lassen.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die großen Medien so sehr ausschließen? Warum bilden Sie nicht die Vielzahl der Meinungen und Sichtweisen, die sich in der Gesellschaft finden, ab?
Wolfgang Storz: Ich finde es erst einmal wichtig, dass wir für diesen Befund inzwischen sogar ein regierungsamtliches Testat haben. Außenminister Frank-Walter Steinmeier beklagte vor wenigen Monaten eine „erstaunliche Homogenität“ in den Medien.
Das sagt also nicht gerade ein bekannter Verschwörungstheoretiker.
Wolfgang Storz: Nein. Sie haben jedenfalls die entscheidende Frage des „Warum?“ gestellt. Ich kann hier nur auf die gängigen Erklärungen verweisen, die gewöhnlich vorgetragen werden: Herdentrieb, Mangel an Selbstkritik, siehe oben: Kritik-Vergessenheit.
Warum hat die Kritik von Steinmeier kein größeres Echo gefunden? Wenn ich Wichtiges nicht übersehen habe, dann war das, vorsichtig gesagt, nicht gerade gewaltig. Matthias Geis und Bernd Ulrich, leitende Redakteure der „Zeit“ haben in einem sehr anregenden Text zur „Ausweitung der Kampfzone“ vor einigen Monaten unter anderem geschrieben: „Vielleicht war es einer der größten historischen Fehler von Politik und Medien, eine Grundsatzkritik der EU oder der Euro-Politik in den Bereich des Halbverrückten zu verweisen.“ Auch dieser Text verdiente viel mehr Beachtung. Übrigens: Wissen Sie, wo ich auf diesen Text stieß? Auf Kopp-Online.
Nochmal zurück zur Ausgangsfrage: Warum schließen Medien aus? Warum lassen sie bestimmte Perspektiven nicht zu?
Wolfgang Storz: Noch einmal: Die Ursachen sind vermutlich vielfältig. Mit am aussagekräftigsten scheinen mir die Analysen zu sein, die auf die Herkunft der leitenden und wichtigen Journalisten verweisen. Siegfried Weischenberg, der große renommierte Medienwissenschaftler, hat in entsprechenden Untersuchungen vor vielen Jahren bereits darauf hingewiesen, dass zumindest leitende Journalisten aus Arbeiterfamilien sehr rar gesät sind. Der Politikwissenschaftler
Thomas Meyer macht dieses Moment in seinem jüngsten Buch stark: Journalisten kommen aus den oberen Mittel- und Oberschichten. Und damit bewegen sie sich auch in diesen Milieus und wählen in ihrer Arbeit Themen und Perspektiven entsprechend nach den Interessen, Bewertungen, Mentalitäten und Gewohnheiten aus, die in diesen Kreisen vorherrschen: Wer sich dort bewegt, auch gesellschaftlich, will sich dort ja wohlfühlen und sich mit seiner Arbeit nicht ausgrenzen.
Damit dürften wir am Kern des Problems angelangt sein. Wir haben es mit einem soziologischen Phänomen zu tun. Sie haben die grundlegende Arbeit von Weischenberg angesprochen, der in einer Studie festgestellt hat, dass Journalisten eben nicht der „Spiegel der Gesellschaft“ sind, sondern dass sich das journalistische Feld aus der Mittelschicht rekrutiert. Außerdem gibt es Studien , die sich mit der sozialen Zusammensetzung bzw. der Herkunft von Schülern an Journalistenschulen auseinandersetzen. Auch da finden sich Ergebnisse, die darauf hindeuten, dass es im jounalistischen Feld einen gemeinsamen Klassenhabitus gibt.
Über die soziale Zusammensetzung des journalistischen Feldes lässt sich auch erklären, woher die Homogenität in der Berichterstattung entsteht. Wenn, vor allem in den führenden Positionen, Akteure zusammenkommen, die alle über einen gemeinsamen oder sehr ähnlichen Habitus verfügen, dann darf davon ausgegangen werden, dass ihr Blick auf die Welt sich sehr nahe kommt. Ihre mehr oder weniger gemeinsame Sozialisation führt dazu, dass sie eine bestimmte Vorstellung von der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit teilen. Und das äußert sich dann auch in der Berichterstattung.
Natürlich ist das jetzt nur sehr verknappt dargestellt. Aber die von Ihnen angesprochenen soziale Zusammensetzung der Medien verweist darauf, dass es gerade eben nicht, wie es Teile der Gegenöffentlichkeit vermuten, eine große Medienverschwörung gibt, die für die uniforme Berichterstattung verantwortlich ist. Die Redaktionen arbeiten tatsächlich aus freien Stücken, ohne das groß Interventionen von außen notwendig sind. Sie liefern den Journalismus ab, von dem sie – aufgrund auch ihrer weltanschaulichen Prägung – überzeugt sind, dass er die Wirklichkeit korrekt widerspiegelt. Ist diese Entwicklung eine Gefahr für ein Mediensystem, das eigentlich pluralistisch sein sollte?
Wolfgang Storz: Ihren Befund teile ich. Entscheidend sind die Konsequenzen daraus. Ich denke, die klassischen Medien müssen dringend helfen, den von ihnen mit-geprägten Mainstream zu erweitern. Es muss selbstverständlich werden, dass ein strikter Gegner der Euro-Währung, der Politik des Staates Israel, der offiziellen Version von 9/11 mit seinen Argumenten Teil der Berichterstattung und der Debatte ist. Dann wird gezeigt, wir nehmen die Kritik an dieser Verengung ernst, sie ist ja sehr weit verbreitet, wir ziehen Konsequenzen daraus. So könnten Medien auch Vertrauen zurückgewinnen.
Ich will jedoch auch hinzufügen: Unser Mediensystem ist so breit und vielfältig, dass „irgendwo“ natürlich auch bisher diese Kritiker immer einen Platz gefunden haben, zu Diskussionen oder Interviews eingeladen worden sind – unser Mediensystem funktioniert im Prinzip und ist absolut verteidigungswürdig -, aber immer auf Plätzen am Rande und nicht in den Zentren und zudem nur gelegentlich.
Ist es nicht interessant, dass wir immer wieder auf 9/11 zu sprechen kommen. Bis heute hat es nicht eine Polit-Talkshow im deutschen Fernsehen fertiggebracht, Vertreter der „offiziellen Version“ und Vertreter der Gegenöffentlichkeit über den 11. September diskutieren zu lassen. Wir reden hier nicht von irgendeinem Randereignis, wir reden von einem unfassbaren Verbrechen, das Auswirkungen bis heute auf den unterschiedlichen Ebenen hinterlassen hat.
Was ist von einer Medienlandschaft zu halten, die zu dem prägenden politischen Ereignis des 21. Jahrhundert ganz einfach eine Perspektive, nämlich die der Gegenöffentlichkeit, zumindest im Rahmen der großen medialen Diskursplätze, ausgegrenzt hat? 2012 hat die Sendung Scobel auf 3-Sat das Thema 9/11 behandelt, das war 11 Jahre nach den Anschlägen. 2003 hat Sandra Maischberger einmal mit Andreas von Bülow in einer Sendung über den 11. September gesprochen. Die großen Polit-Talkshows haben das Thema einfach bis heute ausgegrenzt.
Man muss auf einen österreichischen Sender zugreifen, um zu sehen, wie etwa Wolfgang Ischinger, Stefan Aust und Daniele Ganser miteinander diskutieren – weitestgehend unaufgeregt, sachlich, mit interessanten Argumenten auf beiden Seiten.
Nicht anders verhält es sich mit dem Buch von Udo Ulfkotte, das Sie in Ihrer Studie auch erwähnen. Sie schreiben, dass das Buch sich 150.000 Mal verkauft hat. Wir sprechen hier von einem Beststeller. Und das nahezu ohne Präsenz in den großen Medien. Völlig unabhängig von dem Inhalt des Buches, also einer Frage, wie substantiell ist das, was der Autor schreibt, müsste eine Medienlandschaft, die sich Pluralismus auf die Fahnen schreibt, sich nicht auch und insbesondere mit dem Label „kontrovers“ versehenen Werken in der Breite auseinandersetzen?
Wolfgang Storz: Uneingeschränkt ja. Das Spektrum an Themen und Meinungen, die von den bedeutenden klassischen Medien selbstverständlich bearbeitet und einbezogen werden, kräftig zu erweitern, das nützt nicht nur den Medien, sondern auch der Demokratie. Kommt diese Verbreiterung nicht bald und sichtbar, wird das Misstrauen gegenüber den klassischen Medien noch stärker werden und ihre Gegner noch zahlreicher.