erschienen in „Publik Forum” am 06.10.2006
Die Regierungsparteien sind zu schwach, um voneinander zu lassen, aber zusammen kraftvoll genug, um anderen jede Chance zu nehmen
Eigentlich ist alles angerichtet, um das Land vollkommen zu verändern: Das Spitzenpersonal – von der Kanzlerin bis zum Bundespräsidenten – ist wirtschaftsliberal bis konservativ. Sogar der Petrusstuhl in Rom ist deutsch-konservativ besetzt. Die Themen, die prägen, sind eher die der Konservativen: Ehe, Familie, Sicherheit, Glaube und Religion, Disziplin und Leistung. Und doch sieht alles so aus, als seien die Rot-Grünen in die Verlängerung gegangen. Die große Koalition ist die Inkarnation des Pragmatismus. Da haben sich zwei Partner gefunden, die beide zu schwach sind, um den anderen zu überfordern oder gar zu verlassen. Sie arbeiten bereits seit Jahren informell gut zusammen. Ihre Vorstellungen unterscheiden sich im Kleinklein, aber nie im großen Ganzen. Und weil es im Großen – Abbau der Staatsschulden, keine Experimente, Rückführung des Sozialstaates, Förderung der Unternehmen, Forderungen an die sozial Schwächeren – keine gravierenden Unterschiede gibt, fällt der Streit im Kleinen oft unverhältnismäßig hitzig aus.
In diesem Sinne arbeitet die Koalition daran, die erst unter Gerhard Schröder systematisch begonnene Politik der behaupteten Alternativlosigkeit zu perfektionieren; eine Politik, deren zweifelhafte Erfolge in Apathie und Entpolitisierung liegen, auch im weiteren Verlust von Ansehen der Parteien und der demokratischen Institutionen. Und sie ähnelt noch in einem weiterem Punkt den Schröder-Zeiten: Drängende Probleme wie die Energiepolitik oder die Frage der Integration werden durch Gipfeltreffen verschleppt oder verdrängt – oder durch neue Bündnisse wie dem für Erziehung.
Anders formuliert: Die Partner liegen nach langjährigen, nie geradlinig verlaufenen Prozessen der Annäherung inzwischen so eng zusammen, dass Beteuerungen, sie wollten und könnten nicht gut zusammenarbeiten, wenig glaubwürdig klingen. Mit der einen Ausnahme: der Gesundheitspolitik. Bei dem Streit um deren Neugestaltung blitzt etwas von den grundsätzlichen Unterschieden zwischen den beiden Koalitionspartnern auf. Sie stammen aus der Zeit, als die CDU-Vorsitzende Angela Merkel sich gezwungen sah, ihre Partei zu einer kühl wirtschaftsliberalen Partei umzubauen, um den politischen Abstand zu Gerhard Schröders Agenda-SPD überhaupt noch halten zu können. Doch auch dieser drohende Großkonflikt wird vermutlich in gewohnt pragmatisch-bürokratischer Manier klein gearbeitet werden.
Bei alledem hat die Koalition ein anderes Bild von sich als das Publikum. Sie nimmt für sich große Taten in Anspruch und damit eine Stärke, die aus mehr resultiert als aus der Addition eigener Schwächen und derjenigen der Opposition. Beispiele für solch »große Taten« gibt es: die Reform des Föderalismus, die Rente mit 67, die drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer. Tatsächlich haben sich Vorgänger-Regierungen Vergleichbares nicht getraut. Und tatsächlich gibt es gute Gründe, die für diese Entscheidungen sprechen: Es kann für den Staat in Zeiten der Globalisierung, in denen sich Konzerne das Land mit den niedrigsten Steuern aussuchen können, sinnvoll sein, von direkten auf indirekte Steuern umzusteigen, damit seine Einnahmen verlässlich bleiben. Und da die Menschen heute mit 60 Jahren aussehen wie einst mit 40, ist es kein Unsinn, die Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre zu erhöhen. Also doch große Taten? Nein, – oder nur für diejenigen, die alles Andere vergessen haben: ständig höhere Belastungen für untere und mittlere Schichten, keine Jobs für Arbeitnehmer über 50 und zunehmende Armut. In diesem Licht sind die großen Taten der großen Koalition nichts anderes als die Fortsetzung einer Politik, die in eine immer unverantwortlichere soziale Schieflage mündet.
Kürzung der Renten, Massenentlassungen, sozialer Abstieg – die soziale Frage ist schon vor Jahren nach Deutschland zurückgekehrt. Inzwischen ist das Gefühl verbreitet, wieder in einer Klassengesellschaft zu leben. Trotzdem ist die Stimmung im Lande – verglichen mit den rot grünen Zeiten – noch immer gelassen. Eine allgemeine Apathie trägt diese Koalition, sie ist politisch nicht unter Druck. Damals, zu Zeiten von Kanzler Schröder, war es anders: Gegen die Agenda-Politik gab es lauten Protest. Der Bundespräsident, die Medien, die Wirtschaftsverbände, die konservative Opposition schrieben, redeten, ja, schrien das Land in den wirtschaftlichen Abgrund. Das geht heute nicht mehr. Zum einen regieren die Konservativen mit. Deshalb neigen sie weniger zu Weltuntergangs-Prophezeiungen. Zum anderen ist die Arbeitslosigkeit ein wenig geringer, die Verschuldung ein wenig niedriger, das Wachstum ein wenig kräftiger. Und vielleicht ist die Beißhemmung bei einer Kanzlerin und zudem einer, die viel moderiert und wenig auf den Tisch haut, stärker als bei den Basta-Männern Gerhard Schröder.
Allerdings musste auch Angela Merkel inzwischen feststellen, wie schnell sich die öffentliche (und veröffentlichte) Meinung ändern kann. Schon kühlen manche ihr Mütchen an der Kanzlerin, die sie noch vor wenigen Monaten gefeiert haben. Doch die harsche Kritik von heute ist genauso maßlos wie das Hosianna von einst. Viele – wirtschaftsliberale – Kritiker kommen zu einem harten Urteil, weil sie ihre Taten an Angela Merkels Versprechungen aus dem Bundestagswahlkampf messen; für ihren harten Wirtschaftskurs hatte sie damals keine Mehrheit erhalten. Doch: Soll eine Kanzlerin damit glänzen, dass sie nach der Wahl trotzdem macht, was sie will? Andere unterstellen wiederum in durchaus vordemokratischer Manier, die Kanzlerin sei das Machtzentrum und verantwortlich für das, was geht und was nicht. Aber Merkel ist nicht das Machtzentrum. Sie ist Vorsitzende einer Partei, die in ihrer Gesellschaftspolitik fast so grün ist wie die Grünen und in ihrer Wirtschaftspolitik fast so marktliberal wie die FDP. Deshalb weiß sie nicht mehr, wie sie ihren traditionellen (Wähler-)Kern bewahren kann. Merkel ist die Kanzlerin einer großen Koalition, in der sich zwei Parteien gefunden haben, die inzwischen von Volks- zu Großparteien geschrumpft sind und in sich jeweils alle wesentlichen Vorstellungen und Widersprüche der deutschen Politik abbilden. Und Merkel ist Kanzlerin in einer Verhandlungsdemokratie, ausgelegt auf Konsens und Kompromiss; eine gewachsene Konstellation, an der alle herummeckern, die aber keiner wirklich ändern will. Und wieder andere hängen der Art von Kritik nach, die der Göttinger Parteienforscher Franz Walter so brandmarkt: Man wolle die Vorteile des angelsächsischen Modells – niedrige Steuern und wenige Gesetze – kombiniert mit denen des skandinavischen Modells – exzellente staatliche Infrastruktur und hohe Sozialleistungen ?, von den jeweiligen Nachteilen reden die Befürworter der Modelle lieber nicht. Man will alles.
So spricht viel dafür, dass alles so weitergeht wie bisher. Die Politik der Merkel-Koalition ist die Verlängerung der Schröder’schen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. An einer richtig konservativen Wende hat abgesehen von Jörg Schönbohm, Vorsitzender der CDU-Brandenburg, und dem Papst keiner so richtig Interesse. Das widerspräche dem herrschenden Pragmatismus, wäre vor allem mit den Anforderungen der Wirtschaft an die Menschen kaum vereinbar. Neue Fragen, die sich beispielsweise aus den Erkenntnissen ergeben, dass Arbeit nicht länger vor Armut schützt oder dass unser Bildungssystem das einer Klassengesellschaft ist, lässt die Koalition nicht an sich heran. Beide Partner ahnen zwar, dass es nicht mehr reicht, im Wirtschaftswachstum nur Fortschritt zu sehen. Aber aussprechen wollen sie es trotzdem nicht.