WOZ-Gesprächsserie: WEITER DENKEN, ANDERS HANDELN. TEIL 9, erschienen am 21.05.2015
Wir leben in einer Zeit der Wunschexplosion, sagt der Psychoanalytiker und Ethnologe Mario Erdheim, und das sei nicht schlecht – jedenfalls dann nicht, wenn das Wünschen auch die Arbeitswelt einbezieht. Das ist angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse schwierig. Aber nicht unmöglich.
Von Wolfgang Storz und Pit Wuhrer
WOZ: Herr Erdheim, was kennzeichnet die Lage der Individuen in unseren Gesellschaften, in der Schweiz, in Deutschland? Gibt es da einen roten Faden?
Mario Erdheim: Zentral ist die Emanzipation, die Ablösung des Individuums von Stand, Kirche, Traditionen; die Menschen wurden aus allem, was die Gesellschaft lange Zeit ausmachte, hinausgeschleudert.
Fühlen sich die Menschen deshalb bis heute orientierungslos?
Der Bruch mit dem Alten hat die bisherigen Orientierungen aufgeweicht. Im «Kommunistischen Manifest» von 1848 haben Karl Marx und Friedrich Engels das sehr eindrücklich beschrieben. Die engen und einengenden familiären Bindungen wurden abgestreift, alles Ständische und Beharrende verdampfte, alles Heilige schien entweiht. Heute können sich die Leute gar nicht mehr vorstellen, wie wenig Raum das Individuum einst hatte. Wir haben jetzt eine Gesellschaft der Individuen und nicht mehr eine Gesellschaft der Gruppen – und das ergibt eine andere Dynamik.
Überfordert uns diese Autonomie?
Der Mensch ist das überforderte Wesen schlechthin. Das war schon immer so. Er war auch von der Feudalgesellschaft überfordert, da war nicht nur geruhsames Dasein. Aber: Ich rede von Individualismus, nicht von Autonomie. Autonomie heisst ja, dass man selber die Gesetze macht. Individuen sind wir alle, ob wir autonom sind oder nicht. Individualismus hingegen bedeutet, dass wir die Folgen des Handelns immer nur in Bezug auf das Individuum beurteilen.
Sind wir also zunehmend bindungslose, überforderte Individuen?
Sicher ist die Bindung an Institutionen fragwürdiger und lockerer geworden. Man kann sagen, die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert haben den Institutionen ihre Unschuld geraubt. Sie geben keinen Halt mehr, weil sie an Autorität und Glaubwürdigkeit verloren haben. Aber die Individuen können gar nicht leben, ohne Bindungen einzugehen.
Aber wie steht es um die Autonomie von uns Individuen?
Wenn Individuen von ihren Erfahrungen ausgehen, dann können sie sagen: Dies oder jenes ist das Richtige für mich, das sind Ziele, die ich mir selber setze, weil ich sie für richtig und wichtig erachte. So können Individuen für sich den Sinn bestimmen, und daraus entsteht Autonomie oder Teilautonomie. Doch da nimmt die moderne Gesellschaft Einfluss auf das Individuum und postuliert, Autonomie bestehe vor allem in dem, was das Individuum konsumiere. Der Konsum wird zum Ersatz der Autonomie: Ich bestimme, welche Produkte ich kaufen will. Freiheit heisst dann nur noch, konsumieren zu dürfen, was man will. Das Individuum konsumiert und konsumiert. Ist das Autonomie? Oder fängt sie nicht vielmehr erst dann an, wenn ein Individuum sagt, es muss mehr geben als all diese Produkte?
Wo lernt ein Heranwachsender Autonomie?
Autonomie lerne ich – das klingt zuerst wie ein Widerspruch – in Beziehungen, die ich eingehe. Entscheidend ist dann, wie die Beziehungen von mir erfahren werden. Die Beziehung ist der kulturelle Ort, wo Autonomie gelernt und gelebt werden kann. Denn es entsteht Spannung: Einerseits will ich eine Beziehung, und andererseits will ich autonom sein. Wie geht das zusammen? In diesem Spannungsfeld entwickelt sich die Autonomie.
Zu konsumieren ist aber doch auch eine Form von Autonomie. Oder sehen Sie Warenkonsum nur negativ?
Was die moderne westliche Gesellschaft seit den fünfziger Jahren kennzeichnet, ist die Wunschexplosion. Die Menschen müssen nicht mehr zurückhaltend und bescheiden sein, niemand zwingt sie zur Askese; Fastenmonate und Opfer haben ihre Bedeutung verloren. All diese Rituale der Bescheidenheit, die ja auch stark religiös fundiert waren, wurden buchstäblich weggeschwemmt. Gesagt wird: Du hast Wünsche, und die sollen in Erfüllung gehen. Darin besteht deine Autonomie. Die alten Märchen erzählten ja immer: Das Wünschen bringt Unglück, bescheide dich mit dem, was du hast. Und plötzlich wird das aufgehoben. Alles, was man will, wird angeboten, man kann es kaufen, man muss es nicht einmal selber produzieren. So mündet jeder Wunsch nach und nach in einen Warenkauf. Damit werden alle Objekte letztlich in Waren verwandelt.
Wie verändert diese Welt die Menschen?
Der Zürcher Germanist Peter von Matt hat in seinem Buch «Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur» unter anderem beschrieben, wie im Mittelalter mit Wünschen umgegangen wurde. Da sagt der Bauernsohn: «Ich habe genug vom Leben hier. Ich will in die Stadt.» Doch der Vater sagt: «Nein, du gehörst auf den Hof, bleibe Bauer, wenn du in die Stadt gehst, gibts ein Unglück.» Der Sohn geht trotzdem, bricht mit dem Vater, der ihn verflucht. Als er in der Stadt sein Glück nicht findet, geht er zu den Räubern und wird am Schluss hingerichtet. Da taucht der Vater nochmals auf und stellt fest: «Siehst du, ich hab dir doch gesagt, das geht nicht gut.» Das war im 13. Jahrhundert. Das hat es also immer gegeben, dass Menschen nicht zufrieden waren. Aber damals musste man sich gegen den Vater stellen, gegen die Gesellschaft, um seinen eigenen Wünschen nachzugehen. Noch im 19. Jahrhundert versucht man, das menschliche Wünschen unter Kontrolle zu bringen. Balzac erzählt die Geschichte vom «Chagrinleder»: Wer dieses Leder besitzt, kann alle seine Wünsche erfüllen. Aber das Problem ist, dass dieses Stück Leder mit jedem Wunsch schrumpft, was zu einem schweren inneren Konflikt führt: Denn mit dem Leder schrumpft auch die Lebenszeit des Besitzers. Jede Erfüllung eines Wunschs bringt also die Hauptfigur des Romans dem Tod näher. Am Schluss verzichtet sie auf alle Wünsche, sitzt im Sessel und darf keinen Wunsch mehr denken – sie ist gelähmt und beziehungslos. Heute geht uns immer mehr auf, dass wir lernen müssen, unsere Wünsche zu verändern, wir wissen aber nicht wie. Bisher war es immer nur so, dass kulturelle Katastrophen, Kriege, Seuchen dem Menschen nur einen einzigen Wunsch liessen, nämlich überleben zu dürfen. Wenn das gelang, kam das Wünschen wieder in Gang bis zu einer neuen Katastrophe. Wie kommen wir aus dieser Wiederholung raus?
Die soziale Ungleichheit wächst, und die Armen können sich aufgrund ihrer wachsenden materiellen Not immer weniger wünschen. Dass sie in der Konsumwelt nicht mithalten können, lähmt sie.
Es ist nicht nur ein Problem der sozialen Ungleichheit, sondern auch und vielleicht vor allem ein Problem des Wünschens und der Wunscherfüllung durch den Warenkonsum. Erst wurde uns nahegelegt: Wünscht, was ihr wollt, ihr müsst das Wünschen lernen, seid masslos in den Wünschen, das war der individualistische Trend. Und nachdem viele durch diesen Prozess gegangen sind, merken die Menschen plötzlich, dass es das nicht sein kann. Sie beginnen zu zweifeln, dass das Wünschen glücklich macht. Aber wie wollen wir den Beweis erbringen, dass Konsum nicht glücklich macht? Shoppen beruhigt doch. Gut, Depressionen, Burn-outs und psychische Probleme nehmen stark zu. Das ist ein Beleg, dass die Wunschexplosion nicht befriedigend ist. Ich kann zwar ständig ein neues Handy erwerben, aber werde ich damit glücklich? Entscheidend ist jedoch für jedes Individuum die Güte seiner Beziehungen zu anderen Menschen. Das macht Menschen zufrieden – trotz aller Konflikte, Hoffnungen und Enttäuschungen, die damit verbunden sind.
Ist also die misslungene Wunscherfüllung Ursache der zunehmenden psychischen Belastungen? Liegt diese nicht in den kapitalistischen Arbeitsbedingungen?
Beides ergänzt sich. Der Konsumwunsch erwächst aus den unbefriedigenden kapitalistischen Arbeitsbedingungen. Allerdings läuft das nicht gleichzeitig ab. Zuerst glaube ich ja wirklich, dass die neuen Turnschuhe unglaublich befriedigend sind; sie wurden mir ja von der Werbung angepriesen. Es braucht einen Lernprozess, bis das Individuum erkennt: Nein, das ist es nicht. Und Verlauf und Ergebnis dieser Lernprozesse hängen wiederum von meinen Beziehungen ab. Die depressive Stimmung setzt oft dann ein, wenn ich merke: Ich kann zwar meine Wünsche befriedigen, aber es fehlt immer noch etwas. Was das Fehlende jedoch ist, lässt sich nicht fassen, also versuche ich es mit einem neuen Konsumobjekt.
Jetzt sprechen Sie von Ober- und Mittelschichten, die sich das alles leisten können. Aber was ist mit den Menschen, die gerade das Geld für ein Handy haben, aber für mehr nicht?
Der Psychoanalytiker und Reformpädagoge Siegfried Bernfeld hat dies als Tantalussituation bezeichnet: Auch jene, die Wünsche nicht befriedigen können, sind mit ihnen konfrontiert, denn sie sehen überall, in Zeitschriften, im Kino und so weiter, dass es Leute gibt, die sich alles leisten können. Die Armen leben nicht hinter hohen Mauern, die Zürcher Bahnhofstrasse mit all ihren Luxusläden ist kein Tabubezirk. Man möchte auch diese Früchte ergreifen, kann es aber nicht – sie sind unerreichbar. Das löst ein ganz anders geartetes Leiden aus, und man versucht, sich dadurch zu behelfen, dass man sich sagt: Ich bin ein Versager, deshalb kann ich mir nichts erfüllen. Die Früchte sind da, ich sehe sie, ich rieche sie, aber ich komme nicht an sie heran, weil ich zu wenig tüchtig bin, ich hätte doch die Schule oder die Ausbildung fertig machen sollen; jedes Individuum findet dann viele Gründe für Selbstvorwürfe. Die Tantalussituation zermürbt den Menschen. Dabei ist das Wünschen eine wunderbare Sache, denn es bringt den Menschen dazu, das, was gegeben ist, zu überschreiten. Das Wünschen ist eine treibende Kraft, um die Realität zu verändern. Wer aber zermürbt wird, hat keine Kraft zum Wünschen; er wird eher dazu neigen, die Realität so zu akzeptieren, wie sie ist.
Also sind jene, die nicht mehr wünschen können, am unglücklichsten?
Eine weitere Folge der Wunschexplosion bestand darin, dass sie der Arbeit eine andere Bedeutung gab und dem Menschen damit eine wesentliche Quelle der Sinngebung versperrte. Die Wunschexplosion machte aus dem Beruf, der eine Berufung war, einen Job. Man will nur noch Geld verdienen, eben um sich möglichst viele Warenwünsche erfüllen zu können. Das Geld ist zur Hauptbegründung der Arbeit geworden.
Also kein Interesse am Handwerk, am Inhalt der Arbeit …
Der Arbeitsinhalt ist weitgehend aus dem Wünschen herausgenommen worden. Wenn sich das Wünschen auf den Arbeitsprozess beziehen würde, müsste man sich fragen, wie eine zufriedenstellende Arbeit auszusehen hätte. Aber wenn sich das Wünschen nicht auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaft bezieht und auf die Inhalte der Arbeit, dann gilt nur all das als gut und kreativ, was mehr Geld in den Geldbeutel bringt. Ich finde es bemerkenswert, dass die Wunschexplosion nicht das Leben als Ganzes erfasst, sondern sich nur auf bestimmte Bereiche beschränkt. Und ausgerechnet der Bereich der Erwerbsarbeit, die eine so grosse Wichtigkeit hat, ist ausgenommen.
Was können die Gewerkschaften tun, damit die Menschen wenigstens einen Teil der Energie, die in ihre Wunscherfüllung fliesst, in den Wunsch nach einer möglichst anspruchsvollen Arbeit umlenken?
Da müssten die Gewerkschaften gegen ein Vermächtnis der Sozialdemokratie ankämpfen: Diese hat Arbeit nie in ihrer ganzen Bedeutung gesehen für die Menschwerdung des Affen, wie es Friedrich Engels einst sagte. Für die Partei war und ist Arbeit im Kern nur Lohnarbeit. Der Sinn der Arbeit jenseits des Lohns war für die Sozialdemokratie nie ein Thema, und aus dieser verhängnisvollen Engführung haben sich auch die Gewerkschaften bis heute nicht herausarbeiten können und wollen.
Gab es einmal eine Phase, in der sich die Gewerkschaften mit diesem weiten Verständnis von Arbeit jenseits des Lohns beschäftigt haben?
Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Am Ende meines Studiums war ich in der Toskana in den Ferien. Dort begegnete ich Minenarbeitern, die Pyrit abbauten. Wir unterhielten uns, und ich erfuhr, dass viele von ihnen früh starben. Die Todesrate war sehr hoch. Ich fragte sie dann, warum sie nicht in die Schweiz gehen würden, dort könne man unter besseren Bedingungen arbeiten und bekomme nicht diese Krankheiten. Ich würde nichts verstehen, antworteten sie, hier sei ihr Lebensort, hier wollten sie bleiben. In dieser Auseinandersetzung fiel mir auf, dass diese Minenarbeiter eine ganz andere Einstellung zur Arbeit hatten, als ich sie bis dahin kannte. Sie waren erstens überzeugt, dass ihre Arbeit trotz ihrer Gefährlichkeit etwas ganz Wichtiges, Schönes, Wunderbares ist. Für sie war dieses Etwas-aus-dem-Berg-Herausholen etwas Einmaliges, etwas geradezu Sakrales. Und zweitens hatten sie ein sehr genaues Bild von der Region und ihrer Geologie. Das entsprach zwar vielleicht nicht den wissenschaftlichen Erkenntnissen, zeigte aber, dass sie eine ganz eigene Beziehung zu ihrer Arbeit hatten. Später habe ich in Mexiko Feldforschung in einem Dorf von Minenarbeitern betrieben und bin dort auf das gleiche Phänomen gestossen. Die Arbeiter, früher Bauern, kannten die Goldmine besser als die Spezialisten des kanadischen Eigentümers. «Nein, dort hat es Wasseradern», sagten sie denen, «wenn wir da hineinbohren, überschwemmt das den Schacht.» Doch die kanadischen Experten hörten nicht auf sie. Die Arbeiter aber blieben vorsichtig, als die Bohrungen stattfanden, und konnten sich retten, als das Wasser kam. Und es waren auch sie und nicht die Spezialisten, die wussten, wie das Wasser zu beseitigen war. Auch diese Mexikaner hatten ein ganz anderes, in einem gewissen Sinn ein existenzielles, das heisst aufs Leben bezogenes Verhältnis zur Arbeit.
Ist es angesichts der globalen Arbeitsteilung und des globalen Wettbewerbs nicht eine romantische Vorstellung, über Arbeitsbeziehungen, den Inhalt der Arbeit und die Produkte der Arbeit diskutieren zu wollen?
Warum hat es einen negativen Unterton, wenn man jemanden verdächtigt, etwas Romantisches zu sagen? Auch wenn die Romantiker oft eine konservative Schlagseite hatten, konnten ihre Gedanken wichtige Erkenntnisse vermitteln. Arbeitsbeziehungen, Arbeitsinhalte und was produziert werden soll sind zentrale Themen, denen man nicht aus dem Weg gehen soll.
Was sagt es über die Gesellschaft aus, wenn es keinen bedeutenden Akteur gibt, der einen so einleuchtenden Punkt thematisiert?
Man sieht daran den durchschlagenden Erfolg des Kapitalismus, der die Arbeitskraft zur Ware gemacht hat. Es ist alles so eingepackt, es kommt einem gar nicht mehr in den Sinn, dass es noch andere Konnotationen gibt. Die «Ästhetik des Widerstands» von Peter Weiss beschäftigt sich ja auch mit diesem Thema. Dort wird nicht nur der Widerstand beschrieben und seine Einbettung in die Kultur, dort wird auch beschrieben, wie die Arbeit aus der Kultur herausgelöst und ins rein Ökonomische verlagert wird. Noch etwas weiter gefasst: Seit die Ökonomie aus dem Gesellschaftlichen herausgelöst und als eigene Sphäre definiert wurde, kommen wir gar nicht mehr auf die Idee, dass Arbeit etwas anderes ist als blosse Ökonomie.
Warum ist diese Entfremdung des Menschen vom Arbeitsprozess und dem Arbeitsprodukt so stabil?
Das fängt schon in der Schule an. In den Schulen wird nur noch auf Leistung getrimmt: Genügen die Noten, genügen sie nicht? Diese Ausrichtung ist so absurd, dass ein intensives individuelles Interesse als Störung des Unterrichts betrachtet wird. Ich kann mich noch gut an einen Professor an der Hochschule erinnern, der sagte: «Wählen Sie kein Dissertationsthema, das Sie wirklich interessiert. Sonst dauert es ewig.» Das Bologna-Punktsystem heute befördert das. Es geht nur um die Credit Points, alles andere ist egal. Es gibt also kaum Verknüpfungspunkte zwischen meinen Interessen und dem, was ich lerne und arbeite.
Dieses System ist heute aber harter Kritik ausgesetzt.
Richtig. Und das ist gut. Ich finde aber interessant, dass es dieses System überhaupt gibt. Das ist von oben nach unten durchgesickert, es wurde ja nie offiziell in einer Universität etwa vom Lehrkörper so beschlossen. Bologna wurde einfach dekretiert. Dieses Riesenprojekt mit seinen enormen Folgen ist ohne auch nur einen Anflug von Demokratie durchgesetzt worden. Mit Bologna wird das, was als Wissen gilt, neu definiert. Wissen ist rein funktional, der Zusammenhang zwischen Interesse und Tätigkeit wird gekappt. Er wird noch akzeptiert bei hoch spezialisierten Leuten, beispielsweise Physikern in der Forschung, aber nicht für die Mehrheit der Wissenswilligen.
Ist das gut oder schlecht?
Es gab immer wieder historische Phasen, in denen das Wissen umdefiniert wurde. Ich denke, die heutigen Umdefinitionen tragen dazu bei, den Menschen so zuzurichten, dass er überhaupt keine Fragen mehr stellt. Es ist ein Prozess der Zerstückelung des Wissens im Gang, der dem industriellen Produktionskonzept des Taylorismus ähnelt, der den Arbeitsprozess bis in die kleinsten Handgriffe zergliedert hat.
Ist das ein Grund, warum sich nur noch ein kleiner Teil der Studenten für Politik interessiert?
Ich sehe darin keine Entpolitisierung, denn das Nicht-wissen-Wollen, die schwindende Empathie, das Nicht-Solidarität-Empfinden sind ja ebenfalls politische Positionen. Nur eben nicht diejenigen, die man sich wünscht.
Meinen Sie, dass die Existenz der SVP, der Alternative für Deutschland, der britischen Ukip und anderer rechtspopulistischer Parteien positiv ist, weil ihr Vorhandensein zu öffentlichen Auseinandersetzungen führt?
Es scheint mir wichtig, dass wir zur Kenntnis nehmen, in welchem Ausmass nationalistische und rassistische Positionen heute wieder eingenommen werden können. Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass heute wieder so argumentiert werden kann wie in den zwanziger und dreissiger Jahren. Man kann rassistische Argumente wieder offen und unter Namensnennung anführen, vielleicht nicht gegen Juden, obwohl sie auch betroffen sind, aber gegen Araber und Muslime. Das finde ich sehr beunruhigend. Alle diese Bewegungen tendieren dazu, sich abzuschirmen und abzusperren. Die Umwelt, die Nachbarn, die anderen, die Fremden können nur als Feinde wahrgenommen werden. Aber das entspricht nicht der heutigen Realität. Die zwischenstaatliche Abhängigkeit ist heute so eng geworden, dass der Glaube, man sei souverän, zu einer quälenden Illusion wird.
Aber warum halten dann so viele Menschen, so viele Politiker an einer solchen Illusion fest?
Weil man nicht wagt, sich mit grundlegenderen Problemen zu konfrontieren. Man hat Angst, man müsste zu viel ändern und lieb gewordene Gewohnheiten aufs Spiel setzen. Die Arbeit zum Beispiel müsste in unserem Leben eine neue Bedeutung bekommen. Wir müssten uns auch mit den Enttäuschungsspiralen auseinandersetzen, die sich aus dem Konsum ergeben, und Konsequenzen daraus ziehen. Stattdessen greifen wir auf etwas so Anachronistisches wie den Fremdenhass zurück und konzentrieren uns darauf, unsere Festung besser auszubauen. Daniel Schmid hat das in seiner Filmkomödie «Beresina oder Die letzten Tage der Schweiz» von 1999 eindrücklich und humorvoll in Szene gesetzt. Eine Analyse dieses Films würde sehr eindrücklich die Mechanismen aufzeigen, die beispielsweise in unserem Land ablaufen, um eine illusionäre Welt aufzubauen.
Haben Sie ein Bild von den Menschen vor Augen, die SVP wählen oder den Front National?
Diese Menschen leiden sehr unter ihren vielfältigen Ängsten. Aber woher speisen die sich? Man bietet ihnen immer wieder dieselben Erklärungen an: die Überfremdung, die Überbevölkerung, die Toleranz, die Kuschelpädagogik, die Kuscheljustiz. Also schlägt man ihnen vor, gegen all diese Missstände zu kämpfen und sie womöglich auch abzuschaffen. Weil es sich aber dabei nicht um relevante, sondern um eingebildete Realitäten handelt, führt der Kampf ins Nichts. Man denke nur an die Religionskriege, an die «unüberbrückbaren» Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten und die wütenden Kriege zwischen ihnen. Oder an den Antisemitismus als Waffe gegen den Kapitalismus («die Juden von der Wall Street») oder den Kommunismus («die Juden im Kreml»). Zwar gab es in diesen Kriegen und Verfolgungen viele Tote, aber das, was hätte verändert werden sollen – die politischen Verhältnisse –, bleibt sich gleich. Weder konnte durch die Religionskriege der Aufstieg des Nationalismus verhindert werden, noch wurde durch die Judenverfolgung der Nazis der Kapitalismus, nicht einmal der Kommunismus zum Verschwinden gebracht. Dazu mussten ganz andere Kräfte wirksam werden.
Wird die Angst gezielt geschürt – oder steckt sie in den Menschen drin?
Angst gehört zum Menschen. Seine Angstbereitschaft hat einen wesentlichen Evolutionswert, er braucht sie zum Überleben. Wer keine Ängste kennt, lebt vermutlich weniger lang. Das Interessante an den Ängsten ist, dass sie so unglaublich verschiebbar sind. Früher ängstigten sich die Menschen vor der Hölle oder den Hexen, obwohl beides nichts mit der Realität zu tun hatte. Trotzdem waren sie damals überzeugt, dass es Hexen waren, die die Brunnen vergifteten, oder die Juden. Indem sie diese Frauen, Männer und Kinder verfolgten und umbrachten, hatten die Verfolger wenigstens das Gefühl, etwas gegen die Übel dieser Welt zu unternehmen. Dieses Gefühl hat etwas Befriedigendes. Auch wenn, realistisch betrachtet, die Übel durch all die Folterungen und Morde nur noch grösser wurden.
Wird auch heute mit Angst regiert?
Es gibt eine Art Bügel, an denen man die verschiedensten Ängste wie Kleider aufhängen kann. Der Terrorismus und der Islamismus sind solche Bügel. Von den Hexen wissen wir heute, dass es sie so nicht gab, dennoch glaubten die Menschen daran. Von den Terroristen und Islamisten hingegen wissen wir, dass es sie gibt. Die Frage hier ist jedoch, ob sie auch die Gefahr darstellen, die man ihnen zuschreibt. Ist es sinnvoll anzunehmen, dass in den westlichen Gesellschaften die Scharia und der Tschador eingeführt werden sollen? Ich halte diese Gefahr für sehr gering. Trotzdem ist die Angst davor vorhanden.
Inszeniert das jemand?
Eine Inszenierung unterstellt: Das ist der Regisseur, und das ist das Theater. Ich denke nicht, dass es so funktioniert. Aber es fügen sich verschiedene Trends in der Gesellschaft zusammen.
So etwas wie die unsichtbare Hand?
Adam Smith benutzte diese Metapher, um die Selbstregulierung des Markts zu beschreiben. Diese Metapher impliziert natürlich, dass es sich um Gottes unsichtbare Hand handelt, und drückt die Hoffnung aus, es werde sich schon alles zum Guten wenden. Von der unsichtbaren Hand, die die früheren und heutigen Feindbilder zeichnet und vorgibt, ist nichts Gutes zu erwarten. Ich vermute, es geht vor allem darum, die bestehenden Machtverhältnisse nur so weit zu verändern, dass die Macht sich weiterhin in der Oberschicht ansammeln kann.
Und so entstehen dann neue autoritäre Regimes?
In der Folge des Ersten Weltkriegs entstanden überall in Europa autoritäre Regimes. Diese Gefahr bestand auch in der Schweiz. Worauf beruht die Bereitschaft, sich Autoritäten, Führern, Duces und Generälen zu unterwerfen? Dass es diese Bereitschaft gab, ist umso merkwürdiger, als der Ausbruch des Ersten Weltkriegs die völlige Unfähigkeit der herrschenden Schichten, die politische sowie die militärische Lage adäquat einzuschätzen, offenbart hatte. Eine Konsequenz daraus hätte sein können, allen Autoritäten gründlich zu misstrauen. Aber das war bekanntlich nicht der Fall.
Stattdessen breitete sich eine verleugnende Haltung aus: Schuld seien die anderen Völker. Die Deutschen klagten die Franzosen an, die Franzosen und die Engländer hielten Deutschland für schuldig. Damals war nicht möglich, was dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, in Gang kam – die sogenannte Aufarbeitung der Vergangenheit. Das war eine ausserordentliche geistige Leistung, und umso bedenklicher ist, dass sie heute infrage gestellt wird und der Ruf nach Mythen und Legenden neu erschallt. Demokratie ist auf die Auseinandersetzung mit der Geschichte angewiesen. Kann diese nicht in der Bevölkerung verankert werden, dann steht die Demokratie auf schwachen Füssen.
Wenn Sie eine zweite Rolle hätten – als linker Politiker, der sich der Aufklärung und der Rationalität verpflichtet fühlt: Wie würden Sie mit den Ängsten umgehen, die in diesen rechtspopulistischen Parteien und Gruppen verkörpert werden?
Man muss diese Ängste immer wieder benennen, beschreiben und neu verstehen. Denn es gibt sie in immer neuen Variationen und neuen Konstellationen. Ernst Bloch hat einmal vom «Dunkel des gelebten Augenblicks» gesprochen. Das heisst, dass man in dem Augenblick, den man erlebt, nicht alles erkennen kann. Manches bleibt im Dunkeln, und nur der Lauf der Zeit bringts ans Licht. Erst nachträglich erkennt man, was alles in jenem bedeutsamen Augenblick inbegriffen war. Eine wichtige Aufgabe der Politik wäre es, das nachträgliche Licht in das Dunkel der Gegenwart zu bringen. Heute wissen wir zum Beispiel viel mehr über die Problematik der Flüchtlinge, als wir es in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts wussten. Die Unterscheidung zwischen politischen und ökonomischen Flüchtlingen bot nur eine Rechtfertigung, Flüchtlinge, die dringende Hilfe benötigt hätten, abzuweisen. Auch heute versucht man, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten. Sie fragten, wie ich mit den Ängsten umgehen würde. Die Antwort ist klar: Es geht darum, die Probleme, auf die sich die Ängste tatsächlich beziehen, beim Namen zu nennen. Die Angst zum Beispiel, dass es zu grösseren ökonomischen Krisen kommen kann, weil die Schweizer Banken nicht weiter als Hort für Fluchtkapital fungieren und deshalb auch nicht mehr die gleichen Gewinne wie früher abwerfen werden können. Weitere Ängste: Es wird keine Vollbeschäftigung mehr geben, das heisst, es ist weiterhin mit Arbeitslosigkeit zu rechnen. Diese kann nicht als Schuld des Einzelnen betrachtet werden, der sich dafür zu schämen hätte. Hier taucht aber wieder das Problem auf, was denn Arbeit eigentlich ist. Die Definition der Arbeitslosigkeit hängt von der Lohnfrage ab: Arbeitslos ist der, der keinen Lohn erhält. Wer aber definiert, was Gewinn heisst und wer Lohn bekommt und wer nicht? Das wiederum sind Fragen, die mit den Machtverhältnissen und damit mit der Politik zu tun haben. Ängste zurechtzurücken, ist ein mühsames Unterfangen. Zum Beispiel die Ängste vor Atomkraftwerken. Nach den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima waren sie allgemein wahrnehmbar, aber allmählich flauten sie ab, und zwar ohne dass sich an der Situation selber etwas geändert hätte. Wohin sind diese Ängste verschwunden? Die heutigen Diskussionen erwecken oft den Eindruck, nicht die Atomkraftwerke seien gefährlich, sondern die Ausländer, und die Muslime ganz besonders: als «Schläfer», die jederzeit «losgehen» könnten.
Das wäre also die vorrangige Aufgabe eines linken Politikers: sich aufmerksam mit der Geschichte solcher Entwicklungen beschäftigen, sie ernst nehmen und beispielsweise nicht nur als rassistisch denunzieren …
Mit Entwertung kommt man sicher nicht weiter. Ängste, die sich so lange halten und in neuer Form immer wieder auftauchen, müssen grundsätzlich angegangen werden.
Was hilft dann weiter?
Man muss die Macht der Wiederholungen begreifen. Ich habe kürzlich das Buch einer Journalistin gelesen, die sich mit dem Neorealismus im Zeitraum zwischen 1945 und 1970 in Rom beschäftigte. Sie erwähnt die grosse Kreativität im Filmschaffen (Pier Paolo Pasolini, Federico Fellini, Vittorio De Sica), in der Literatur (Italo Calvino, Cesare Pavese, Alberto Moravia) und stellt die Frage, weshalb diese fruchtbare kulturelle Phase einfach wegbrach und jemand wie Silvio Berlusconi eine solche Dominanz entwickeln konnte. Ihre These ist, dass die Schwäche dieser kulturellen Bewegung darin bestand, dass sie sich nicht mit dem Faschismus auseinandersetzte. Es schien ihnen, Vergangenes solle man ruhen lassen, man könne sozusagen bei null wieder anfangen. Aber eben das geht nicht. Man fängt nicht neu an, sondern wird das wiederholen, was man unverstanden zurücklassen wollte.
Wenn sich das Negative wie der Nationalismus ständig wiederholt – ist es dann auch denkbar, dass sich das Positive wiederholt? Es könnte doch auch die damalige Kreativität in Italien irgendwann wieder hervortreten. Wird auch das Fortschrittliche im kollektiven Bewusstsein einer Gesellschaft gespeichert?
Das ist eine spannende Frage, die man sich am Beispiel der Übergänge von einer Epoche zur anderen veranschaulichen kann. Wenn sie nicht durch Katastrophen ausgelöscht werden, so verschwinden Kulturen nicht, sondern transformieren sich. Die römische Kultur ging als Herrschaftsgefüge unter, aber das Christentum tradierte viele klassische Kulturinhalte, nicht zuletzt das Latein. Auf diese Weise kommt es zu immer neuen Kulturformen, die die Kreativität der Individuen immer wieder neu herausfordern. Ich nehme an, dass man das jeweils als «Fortschritt» bezeichnen kann. Am Zusammenbruch der altamerikanischen Hochkulturen kann man sehen, dass sich in der kolonialen Gesellschaft viele ihrer Elemente mit dem Christentum und dem Iberischen, damit auch mit dem Maurischen verbunden haben. Die Kreativität, ja sogar die Genialität der Kolonialkultur ist leider allzu sehr unterschätzt worden. Aber sie war es, die die Regeneration der Bevölkerung wieder ermöglichte, ebenso wie die immer neuen Versuche, eine neue menschenwürdige Gesellschaft aufzubauen. In diesen Versuchen – die natürlich auch in anderen kulturellen Zonen beobachtet werden können – erkennt man, dass sich der Wunsch nach einem besseren Leben immer neu durchsetzt. Scheitert der Versuch, so wird der Wunsch früher oder später wieder virulent werden. Was der Neorealismus schuf und entwickelte, mag in Italien verloren gegangen sein, aber es ist gut möglich, dass dieser Antrieb, Filme zu machen, irgendwo anders wieder auftaucht, denn die Filme sind ja erhalten und können als Zündung für neue Werke dienen.
Gewöhnlich wird gesagt: Wenn es Krisen gibt, wird der Ruf nach Alternativen lauter. Westeuropa ist in der Krise, aber die Linken werden nicht stärker. Warum?
Das ist eine Spätfolge des Siegs des Kapitalismus von 1989. In den jüngsten Feiern zum Jubiläum des Mauerfalls wurde die weitgehende Entwertung linken Gedankenguts genüsslich zelebriert. Zwar rutschte der Kapitalismus selber in neue Krisen, und es müsste allen klar sein, dass das Ende der Geschichte noch nicht festgeschrieben ist. Aber das führt nicht zu einem verbreiteten Bewusstsein, dass kapitalistische Entwicklungen katastrophische Folgen haben können. Was allerdings vorhanden ist, sind die Ängste. Diese Ängste versucht ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung dadurch zu beruhigen, dass er auf eine Rückkehr zu Vergangenem als Lösung der heutigen Probleme hofft. Dabei spielt die Fremdenangst eine wesentliche Rolle, nach der Devise: Sind die Fremden einmal weg, dann werden sich die alten idyllischen Verhältnisse wie von selbst wieder herstellen. Die Angst vor der Zukunft ist so gross, dass man die Zukunft nur als Vergangenheit zu denken wagt. In einer solchen Situation haben linke Alternativen keine guten Chancen. Man kann auch noch annehmen, dass die linken Utopien, die um Russland und China kreisten, durch den Zusammenbruch des Ostblocks völlig diskreditiert wurden. Der Kapitalismus kann, weil er überlebte, mehr Argumente für sich anführen als der Sozialismus, der so vieles tut, um sich möglichst schnell dem Kapitalismus anzugleichen. Dabei wird oft vergessen, dass die Geschichte von 1917 bis 1989 wesentlich davon geprägt wurde, dass der Kommunismus den Kapitalismus zwang, Reformen einzuführen, um den politischen Einfluss der Roten abzuweisen. Es wäre ein interessantes Denkexperiment, der Frage nachzugehen, wie sich der Kapitalismus ohne den Einfluss des Kommunismus entwickelt hätte.
Wie soll die Herkulesaufgabe gelingen, die Ängste zu identifizieren, die wahren Ursachen zu benennen – und damit die Verschiebung der Ängste beispielsweise auf Fremde zu blockieren? Die Menschen verdrängen doch, weil sie sich sicher fühlen wollen.
Es stimmt zwar, dass man verdrängt, weil man sich nicht sicher fühlt, aber das geht nie ganz auf. Das Individuum ahnt ja, dass es mit etwas Wesentlichem nicht fertig wird, und so muss es immer neue Verdrängungsschübe auslösen, das heisst die gefährlichen Stellen immer weiter umfahren. Aber dadurch wird die Welt auch immer unübersichtlicher, also noch angsterregender. Damit will ich sagen, dass es das Individuum durchaus erleichtern kann, endlich die eigentlichen Gefahren beim Namen genannt zu bekommen. Die Medien rechtfertigen ihre boulevardistische Informationspolitik ja oft damit, dass es die Medienkonsumenten so wollen. Wer so argumentiert, verachtet die Mehrheit der Menschen und sieht sich als Teil einer Elite. Aufgrund dieser Konstruktion Elite–Masse rechtfertigt man die Notwendigkeit von Spaltung und Projektion: Die Masse will in ihren Illusionen bestätigt werden, und diese hat man zu produzieren und zu bedienen. Ich teile diese Ansichten nicht und nehme an, dass es dem Menschen zumutbar ist, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, auch wenn sie angsterregend ist.
Autonomie entsteht in der Gemeinschaft und in der Auseinandersetzung mit einem Gegenüber, sagten Sie. Aber statt einer Mitgliedschaft in Kollektiven, Parteien oder Gewerkschaften bevorzugt die grosse Mehrheit eine Teilnahme an flüchtigen Gemeinschaften wie etwa den sozialen Netzwerken.
Dahinter steckt ein unglaublicher Verlust an Vertrauen in die öffentlichen Institutionen. Man glaubt ihnen einfach nicht mehr. Die Politiker haben so viel an Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt. Die Menschen sind enttäuscht und wollen nicht länger etwas angehören, das unglaubwürdig und enttäuschend ist, das nichts von dem hält, was versprochen wurde – und dennoch immer wieder Versprechungen macht. Nehmen Sie die ganze Diskussion um das Bankgeheimnis, die letztlich eine Katastrophe war. Wie die sich verhalten haben! Da haben die Politiker zuerst gesagt: Es gibt kein Problem. Dann versicherten sie: Das Bankgeheimnis steht in der Verfassung, Änderungen sind nicht möglich. Sie haben das sehr überzeugend dargestellt. Und plötzlich ist das Bankgeheimnis weg. Und niemand stellt sich hin und sagt: Wir haben uns geirrt, wir haben alles falsch eingeschätzt, wir müssen uns entschuldigen. Wie ist das möglich gewesen? Ich habe das hier nur als Beispiel genommen. Ich war nie für das Bankgeheimnis, also habe ich nichts gegen diese Änderung. Ich wollte an diesem Beispiel – es gibt zahllose andere, man denke nur an den Zusammenbruch der Swissair – erläutern, wie die Politik sich von Tag zu Tag unglaubwürdiger macht. Und so versuchen die Menschen, Orte zu finden wie Facebook, wo das Imaginäre ganz ausdrücklich eine grosse Rolle spielt. Die Wirklichkeit ist dort nicht so wichtig. Ob jene, mit denen sie da kommunizieren, Phantome sind, ob es sie wirklich gibt, das ist kein Thema. «Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein» – wie Goethes Faust, nur eben nicht beim Osterspaziergang, sondern auf Facebook.
Ist der Wunsch nach verbindlicher fester Gemeinschaft verkümmert?
Nein, er verkümmert nicht. Als Sehnsucht ist er immer da – nach Liebe zum Beispiel, schauen Sie sich nur die Kontaktanzeigen an. Aber hier müssen wir wieder das Thema Arbeit aufnehmen. Was passiert, wenn im Zuge der fortschreitenden Entfremdung menschliche Beziehungen aus der Arbeitswelt rausgenommen werden? Wenn die Arbeit so bedeutungslos und beziehungsarm wird, dann sucht man halt die Kontakte in einer imaginären Welt. Und nicht mehr in der realen Welt von Beziehungen. Denn dort könnte der andere sehen, dass es mir heute nicht so gut geht, dass ich schlecht gelaunt bin – und ich könnte erfahren: Oh, er erträgt mich doch, ich darf so sein, wie ich gerade bin. Diese Erfahrung mache ich aber nicht, sondern ich passe mich an und spiele die Rolle, die mir zugeschrieben worden ist. So ist das Reale entschwunden, ich bewege mich in der Scheinwelt des Büros, und trotzdem muss ich mich der Realität der Hierarchie anpassen. Man kann die Realität nicht leugnen, man kann nur neue Fluchtorte suchen. Die Realität bleibt doch die letzte Instanz.
Die Menschen leiden in unseren westlichen Wirtschaftsgesellschaften, weil sie in der Arbeit nur eine Ware und eine Frage des Lohns sehen. Wer sie neu definiert und ihr Sinn verleiht, der öffnet sozusagen die Tür zu neuem Fortschritt. Wer kann das sein?
Darauf möchte ich als Psychoanalytiker antworten. Zwar wird das Psychische heute eher als etwas Überflüssiges betrachtet, bestenfalls als Störfaktor, der die Individuen daran hindert, die von ihnen geforderten Leistungen zu erbringen, aber ich weiss, dass das Psychische über gewaltige Kräfte verfügt. Zu diesen Kräften gehören die Grössen- und Allmachtsfantasien. Aus diesen entspringen die Wünsche des Menschen, die Realität nicht einfach so zu akzeptieren, sondern sie verändern zu wollen. Ein eindrücklicher Beleg dafür sind die Flugfantasien, die den Menschen vermutlich seit Urzeiten bewegten und die zum Beispiel in Mythen wie von Dädalus und Ikarus Gestalt annahmen. Daraus entstanden Erfindungen, die das heutige weltumspannende Flugnetz ebenso ermöglichten wie die schrecklichsten Luftkriege und Bombardements. Damit will ich sagen, dass die Grössen- und Allmachtsfantasien ein schier unermessliches Potenzial an Möglichkeiten enthalten, die sowohl für destruktive als auch für konstruktive Zwecke eingesetzt werden können. Welche Richtung sich durchsetzt, hängt von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Tendiert man dazu, diese Verhältnisse, insbesondere die Machtstrukturen, unveränderlich zu erhalten, so setzt sich das destruktive Potenzial durch, weil man all das vernichten muss, was die etablierte Macht infrage stellt. Dabei darf man nicht vergessen, dass der Wandel, die Bewegung das Selbstverständliche ist, das heisst, dass man viel Energie verwenden muss, um Bewegungen und den durch sie verursachten Wandel zu stoppen, einzufrieren.
Was kann man tun, damit sich die positive Seite der Fantasien gegen die etablierte Macht durchsetzt?
Die wichtigste Lebensphase des Individuums, in der sich entscheidet, in welche Richtung sich Grössen- und Allmachtsfantasien entwickeln, ist die Adoleszenz. Die Leistung, die die Mädchen und Jungen im Verlauf der folgenden zehn, fünfzehn Jahre erbringen müssen, besteht darin, ihre Grössen- und Allmachtsfantasien in Einklang mit ihren Begabungen zu bringen. Gelingt das nicht, so bleibt den Individuen nichts anderes übrig, als auf sie zu verzichten oder sie an andere zu delegieren. Das sind dann die Führer und Propheten, die Filmstars, die Spitzensportler und ihre Mannschaften. Das Entscheidende ist, dass diese Identifikation eine Verbindung der Grössen- und Allmachtsfantasien mit den eigenen Begabungen und Talenten verhindert. Diese Überlegungen machen vielleicht auch verständlich, weshalb Jugendarbeitslosigkeit ein schweres Handicap darstellt. Zum materiellen kommt noch das psychische Elend eines tiefen Unbehagens und Ungenügens hinzu. Jugendliche werden unter solchen Umständen jede Gelegenheit ergreifen, um da auszusteigen. Auch der Dschihad erscheint dann als eine solche Möglichkeit. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg warf man sich anfangs begeistert in die Schlacht, um für Kaiser, König und Vaterland zu sterben. In den sechziger Jahren schienen andere Utopien realisierbar, und tatsächlich änderte sich auch vieles. Der Kapitalismus nahm diese Anstösse begierig auf, und ihnen verdankt man auch die Entwicklung völlig neuer Technologien. Aber der Elan erlahmte, nicht zuletzt weil der Kapitalismus an die Grenzen seines Wachstums geriet. Da stehen wir heute. Auf die Grössen- und Allmachtsfantasien zu spekulieren, wie ich es tue, birgt das grosse Risiko, dass es keine Garantie gibt, ob sie in Richtung des Destruktiven oder des Konstruktiven tendieren werden.
Und wie fördern wir die kreative Seite?
Dafür sehe ich viele Ansätze: zum Beispiel das zunehmende ökologische Bewusstsein, das in den Aktionen von Greenpeace etwa ins Spektakuläre geht und das Grössenfantastische offenbart. Aber auch die zunehmende Beliebtheit des Veganismus, durch den es zu einer Umwertung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier kommt. Oder der ständige Versuch, neue Lebensformen zu suchen und zu finden und dabei auch der Stadt neue Bedeutungen im Zusammenleben zu geben. Erschreckend ist allerdings, wie viel Widerstand und Hass solche Bemühungen auslösen. Und gegen diesen Hass anzukämpfen, ist eine schwierige und mühsame Sache. Denn wir wollen ja keinen Gegenhass entwickeln.
Von Quito nach Zürich
Es ist ein grosses Arbeitszimmer, in dem uns der Psychoanalytiker Mario Erdheim zum Gespräch empfängt. Johanna Spyri habe hier gelebt, es sei auch die Wohnung von Paul Burkhard gewesen, jenem Musiker, der unter anderem die Musik zur Uraufführung von Bert Brechts «Mutter Courage» (Zürich 1941) komponierte. Und Brecht habe sich – wie viele andere EmigrantInnen – ebenfalls oft hier aufgehalten: «Burkhards Mutter stand im Ruf, den besten Kaffee zu kochen.» Der Raum, in dem Erdheim praktiziert, hat eine grosse Tradition.
Mario Erdheim, geboren 1940 in Quito (Ecuador), ist einer der bedeutendsten Psychoanalytiker der Schweiz. Er studierte in Wien, Basel und Madrid, arbeitete in Zürich als Lehrer, übernahm danach eine Dozentur für Ethnopsychoanalyse an der Universität Zürich, war Gastprofessor in Frankfurt, Salzburg, Wien und Darmstadt und praktiziert seit 1975 in Zürich. Sein Forschungsschwerpunkt ist die gesellschaftliche Bedingtheit des Unterbewusstseins und die Rolle des Unbewussten in der Kultur. «Was es heisst, Schweizer zu sein, wird einem erst klar, wenn man das Fremde verstehen möchte und auf die eigenen Schranken stösst», schrieb Erdheim – anknüpfend an die Forschungen von Paul Parin, Gold Pari Matthèy und Fritz Morgenthaler – in seinem Grundlagenwerk «Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess» (Suhrkamp Verlag, 1988). Die Besonderheiten von Kulturen, so Erdheims These, träten nur durch die Gegenüberstellung mit anderen hervor: Erst in der Begegnung mit dem Fremden bekämen Erkenntnisse einen Wert.
Pit Wuhrer