WOZ-Gesprächsserie: WEITER DENKEN, ANDERS HANDELN. Teil 8,
erschienen am 17.07.2014

Wir stehen vor einem Jahrzehnt des Rechtspopulismus, sagt der St. Galler Soziologe Franz Schultheis im Gespräch mit der WOZ. Dennoch bleibt er optimistisch: Die Zivilgesellschaft sei lebendiger denn je. Man müsse nur genau hinschauen.

Von Wolfgang Storz und Pit Wuhrer

WOZ: Franz Schultheis, Mitte Mai hat die Linke in der Schweiz eine krachende Niederlage erlebt: Über drei Viertel der Abstimmenden votierten gegen die Mindestlohninitiative. Wäre ein solch verheerendes Ergebnis vor zwanzig Jahren denkbar gewesen?

Franz Schultheis: Diese Initiative war etwas sehr Gewagtes und betrat Neuland, haben die Initiatoren doch einen sehr hohen Mindestlohn gefordert. Das ist ein Punkt. Und der andere: Wir erleben ja immer wieder, dass das Volk gegen seine eigenen Interessen stimmt. Denken Sie an die Abstimmungen zur Mutterschaftsversicherung, zur Arbeitszeitverkürzung, zur 1:12­-Initiative oder zu «Sechs Wochen Ferien für alle». Vor der Ferienabstimmung war ich an einem Hearing, und es überraschte mich, welche Fragen Parlamentarier stellten. Ich plädierte dafür, sich zu fragen, ob in einer Zeit der starken Überforderung in der Arbeitswelt längere Ferien nicht auch wirtschaftlich sinnvoll wären, um die Arbeitskraft zu erhalten. Man muss ja immer ökonomisch argumentieren. Sie fragten, ob man das auch garantieren könne. Das zeigt, auf welchem Niveau da diskutiert wird. Mich hat das Mindestlohnergebnis nicht überrascht, seine Deutlichkeit dann aber schon.

Ist das Ausmass der Niederlage eine Schweizer Besonderheit? In den meisten anderen europäischen Ländern gibt es Mindestlohnregelungen seit vielen Jahren. Selbst in Deutschland wurde eine gesetzliche Lohnuntergrenze eingeführt.
Die Regelungen anderswo spielten in der Debatte eine bedeutende Rolle. Das Argument der Lobbyisten lautete ja, der für die Schweiz geforderte Mindestlohn sei mehr als doppelt so hoch wie etwa der in Deutschland. Damit werde die Schweiz für Beschäftigte noch attraktiver, und man könne dem Zuzug von Ausländern gar nicht mehr Herr werden. Diese Kombination mit dem Einwanderungsthema erklärt das ungewöhnlich schlechte Abschneiden. Es ging also nicht so sehr um das Prinzip Mindestlohn, sondern stark um die Höhe.

Vor zwanzig Jahren wäre das Ergebnis also ähnlich hoch ausgefallen? Da hat sich nichts verändert?
Vor zwanzig Jahren gab es in der Schweiz wohl keine Gruppe, die überhaupt den Mut gehabt hätte, eine solche Forderung zur Abstimmung zu stellen. Es gibt heute mehr Initiativen, die weit in die Zukunft greifen. Da kann man beim ersten Mal immer eine kräftige Niederlage kassieren.

Trotzdem: In der Krise könnten doch Egoismus und Apathie zugenommen haben. Welches Bewusstsein lesen Sie aus dem Mindestlohnergebnis heraus?
Es hat keine grundlegende Änderung in der politischen Kultur gegeben. Die Stimmbevölkerung war vor zwanzig Jahren nicht progressiver. Die Menschen waren schon immer empfänglich für das Argument, dass eine ökonomische Krise drohe, wenn man den Sozialstaat noch weiter ausbauen würde. Beim Mindestlohn war die ökonomische Argumentationslinie besonders ausschlaggebend, weil viele denken, dass der Wohlstand auf Arbeitsamkeit und moderate Lohnerhöhungen zurückzuführen sei. Dabei war die Forderung von 4000 Franken nicht überrissen, wenn man die Kaufkraft bedenkt.

Warum votiert das Wahlvolk gegen die eigenen Interessen?
Die grosse Mehrheit der Leute sieht sich hier in der Schweiz im «Gelobten Land», weil es eines der wohlhabendsten Länder der Welt ist. Ebenso verbreitet ist die Überzeugung, dass die Meritokratie nicht durch überzogene Forderungen gefährdet werden darf: Jede und jeder hat seine oder ihre Position mit seiner oder ihrer Leistung auch verdient. Die eigene Leistung entscheidet über den beruflichen und materiellen Erfolg. Dieses Denken hat von seiner Kraft nichts verloren. Die Menschen nehmen es für bare Münze, siehe die Mutterschaftsabstimmungen. In vielen europäischen Sozialstaaten gibt es diesen Urlaub schon seit Jahrzehnten, obwohl sie über eine viel schwächere finanzielle Basis verfügen. Und nun die Konsequenz aus dieser konservativen Grundhaltung: Weil wir dies alles gemeinsam erarbeitet haben und weil es Leistungsgerechtigkeit gibt, müssen wir gemeinsam das Erarbeitete verteidigen. Dieser naive Glaube an bestimmte wirtschaftspolitische Diskurse, die Idee, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht und dass man konsensorientiert und sozialpartnerschaftlich diesen Wohlstand erhalten muss – das ist schon eine Schweizer Besonderheit.

Diese marktradikalen Grundargumente dominieren seit Jahrzehnten den Diskurs. Die linken Parteien und Gewerkschaften konnten dem bisher wenig entgegensetzen. Was machen sie falsch?
Wir müssen differenzieren. So gibt es zwischen der Welschschweiz und der Deutschschweiz nennenswerte Unterschiede, die wir nicht vernachlässigen dürfen. Ich habe beispielsweise in Genf die Gewerkschaften und die linken Parteien immer als viel präsenter erlebt als in Zürich oder in Bern. Warum das so ist? Es gibt viele Gründe dafür. Wahrscheinlich ist der Einfluss der anarchosyndikalistisch geprägten französischen Gewerkschaftswelt in der Welschschweiz viel stärker …

Aber gerade Frankreich ist doch der Beleg dafür, dass in einer Krise der politische Trend nach rechts geht: Bei den EU-Wahlen wurde der Front National erstmals stärkste Kraft. Und die Linke zerlegt sich.
Dieser Hinweis widerlegt ja meinen nicht, dass es in Frankreich eine andere Gewerkschaftskultur gibt, die anarchosyndikalistisch geprägt ist: Das Klima ist politisierter und konfrontativer als in der Schweiz mit ihrem Konsensgedanken. Und den starken Drift von links nach rechts gibt es nicht nur in Frankreich. Das können wir in vielen europäischen Ländern beobachten. Und da ist die Erklärung sehr einfach: In all diesen Ländern hat sich die Linke, haben sich die Sozialdemokraten und Sozialisten desavouiert. Erinnern Sie sich daran, dass die klassischen sozialdemokratischen Kräfte vor fünfzehn, zwanzig Jahren unter Bill Clinton, Tony Blair, Gerhard Schröder oder Lionel Jospin den sogenannten dritten Weg eingeschlagen haben – einen Weg, der sich im Alltag vor allem als Sozialabbau bemerkbar machte und der der Finanzindustrie überhaupt erst zu ihrer heutigen Macht verhalf. Diese Parteien haben die Erosion der sozialstaatlich verfassten Marktwirtschaft, des Wohlfahrtskapitalismus eingeleitet.
Die Frustration über diese Parteien sitzt sehr tief. Und ein Teil dieser ehemaligen sozialdemokratisch orientierten Wähler geht nach rechts. Da spielen Ressentiments eine grosse Rolle, die sich speziell gegen «la classe politique de la gauche» wenden, also speziell gegen die politische Elite der Linken. Der Rechtspopulismus ist das doppelte Ressentiment – gegen «die da oben» und gegen «die da unten», die «Faulenzer» und die Ausländer, die uns die Wohnungen und Arbeitsplätze streitig machen wollen. Diejenigen, denen in der Krise die Felle wegschwimmen, die sich um Sicherheit und Arbeit ängstigen, sind sehr empfänglich für rechtspopulistische Angebote. Die grosse Enttäuschung über die marktradikale Politik der linken Parteien und die Krise selbst, die ja in grossen Teilen in dieser Politik gründet, treiben viele Menschen nach rechts.

Was bedeutet das für die nächste Zeit? Stehen wir vor einem Jahrzehnt des Rechtspopulismus?
Das befürchte ich. Alle Zahlen und Tendenzen sprechen dafür. Der Rechtspopulismus ist zwar immer noch minoritär, aber er könnte eine ganze Ära prägen. Diese Gefahr ist real, wie man an Frankreich sieht. Dort geben die Sozialisten ein jämmerliches Bild ab. Auch die deutsche SPD kommt trotz Regierungsbeteiligung nicht wieder auf die Beine. Angela Merkel ist unverändert die prägende Figur, obwohl sie alles andere als ein Erfolgsmodell repräsentiert: In Deutschland wird seit Jahren eine florierende Exportwirtschaft mit einem zunehmenden sozialen Desaster kombiniert – was soll daran Vorbild sein? Und die Rechtspopulisten sind geschickt, sie betreiben offen Kapitalismuskritik und setzen dezidiert auf die soziale Frage. Marine Le Pen nutzt beispielsweise das Buch «Das Kapital im 21. Jahrhundert» von Thomas Piketty – ein ausgezeichnetes Buch übrigens –, indem sie sich dessen antikapitalistische Analyse bewusst zu eigen macht und dann sagt: Wir haben aber eine andere Lösung.

Was können Organisationen links des Mainstreams von Parteien wie dem Front National lernen? Müssten sie die Ängste vieler Menschen vor Zuwanderung ernster nehmen und – platt formuliert – nationaler argumentieren?
Es wäre ein verheerender Irrweg, wenn die Linke dem Rechtspopulismus einen Linkspopulismus entgegensetzen, auf die Pauke hauen und sagen würde: Grenzen dicht, Einwanderung stoppen, deutsche Jobs den Deutschen, Schweizer Produkte den Schweizern. Dann gäbe es nur noch in Nuancen Unterschiede, diese Art des Linkspopulismus würde über kurz oder lang im klassischen Rechtspopulismus landen. Es fällt ja auf, wie viele Altachtundsechziger später im rechten Lager gelandet sind.

Doch gibt es da keine Defizite bei den linken Organisationen? Die Ängste sind ja da. Und wir Internationalisten scheinen sie zu ignorieren.
Unser Seminar für Soziologie hat anlässlich einer Einbürgerungsinitiative vor einigen Jahren den Verlauf der öffentlichen Auseinandersetzung empirisch untersucht. Da haben wir festgestellt: Rechte Parteien sind sehr präsent und thematisieren intensiv diese Ängste und Vorbehalte und bieten dann ihr Programm an. Diese Parteien verwenden dabei Worte und Wortwendungen, die aus der Alltagssprache stammen, sie agieren also sehr bürgernah. Linke Parteien haben diese Aspekte gar nicht thematisiert. Es gab einige Porträts von gelungener Integration. Es gab Beschwichtigungen, das sei doch nicht so schlimm. Das war alles. Und mit dem Beschwichtigen signalisiert man auch noch: Ich nehme dich und dein Gefühl nicht ernst. Links herrschten Sprach- und Hilflosigkeit.
Ich vermute, dass linke Parteien diese Gefühle und Vorbehalte bewusst nicht thematisieren, weil sie glauben, diese dadurch zu befördern. Und sie haben Angst, dass sie sich dadurch den Rechtspopulisten annähern. Da ist auch etwas dran. Sie stecken in einem Dilemma. Es wäre ein fataler Irrweg, die Befürchtungen von grossen Teilen der Bevölkerung einfach zu ignorieren. Andererseits ist es riskant, diese Gefühle zu thematisieren, weil sie den Diskurs der Rechtspopulisten befördern. Das lässt sich gar nicht mehr vermeiden, weil diese dieses Feld bereits seit Jahren öffentlich besetzen. Ideal wäre es, ein neues ethisches Diskursfeld zu eröffnen. Aber dafür gibt es heute kein öffentliches Gehör.

Und wie sieht es mit den Intellektuellen aus? Wo sind heute die linken Denker?
Erlauben Sie mir einen persönlichen Rückblick: Ich habe sechzehn Jahre lang intensiv mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu zusammengearbeitet, habe seine Werke in den deutschsprachigen Raum gebracht, war bei vielen seiner Initiativen dabei. Er war ein Vordenker, eine Leitfigur und ein Wissenschaftler, der mit hoher Systematik versuchte, seine erarbeiteten Erkenntnisse in gesellschaftliche Interventionen umzuwandeln. Sicher, es wurde einiges erreicht, aber letztlich war es doch enttäuschend wenig. Ein solches Engagement setzt grosse persönliche Investitionen voraus – und niemand weiss, ob sie sich lohnen.
Nun zur heutigen Situation: Ich sehe im Moment weit und breit keine Versuche einer gesellschaftlichen Intervention von Intellektuellen. Sie engagieren sich nicht politisch, sondern ziehen sich seit einigen Jahren eher wieder in die Akademie zurück, in die Türme der Wissenschaft.

Warum?
Ohne Bourdieu überhöhen zu wollen: Es bedarf solcher Identifikationsfiguren, einer Person, die sich in der Wissenschaft bewegt, aber auch auf Marktplätzen, die so redet, dass sie überall verstanden wird, nicht nur im Lehrsaal. Es bedarf aber auch der Aufnahmebereitschaft von Gewerkschaften, von Parteien, die sagen: Wir wollen uns mit solchen Denkern auseinandersetzen. Und es bedarf einer allgemeinen Verve, wie sie damals noch vorhanden war: Bourdieu führte eine Debatte um ein besseres, soziales Europa mit an, als Europa noch eine faszinierende Idee war. Nun, vierzehn Jahre später, wenden sich doch die meisten enttäuscht ab. Die Utopie Europa ist bachab gegangen. Und natürlich sind viele Intellektuelle auch deprimiert wegen des Versagens der europäischen Sozialdemokratie. Wer noch zum politischen Engagement bereit ist, fragt sich: Wo sind denn meine Ansprechpartner in der Politik?

Fehlt es den Intellektuellen an Anerkennung, sind ihnen die Koordinaten verloren gegangen? Oder haben sie sich einfach arrangiert?
Ich glaube, es ist eine Mischung von allem. Belegbar ist ihr Ansehen in der Bevölkerung geschwunden, damit auch ihr Einflusspotenzial. Und ich registriere eine Entpolitisierung. Hinter dieser Entpolitisierung steckt, gesellschaftlich gesehen, eine Schicksalsgläubigkeit, ein Fatalismus, der sich aus der Einschätzung speist: Wir leben in einer Welt, in der die bisherigen Koordinaten nicht mehr stimmen und die bisherigen politischen Organisationen und Aktionsformen nicht mehr funktionieren. Wir hatten bisher klare Gegner und Freunde, wir wussten, auf welcher Seite wir stehen und wo die Gegenseite ist. Wir dachten in nationalen Räumen und hatten eine nationale Regierung, die etwas zu sagen hatte, an die wir unsere Forderungen richten konnten. Und wir wussten, wenn die unsere Forderungen annimmt, dann werden die Wirklichkeit. Das ist alles weg. Alles.
Wenn wir heute eine Krise haben, müssen wir erst einmal lange analysieren, wo die Ursachen liegen, wer die Verantwortung trägt, wer überhaupt etwas dagegen tun kann, was überhaupt dagegen getan werden kann. Es fehlt der konkrete Gegner, und es fehlen klare Koordinaten, die vermitteln: Das ist rechts, das ist links. Und wer sich der Anstrengung dieser grundsätzlichen Neubestimmung nicht aussetzen will, zieht sich eben zurück. Wo liegt denn die Arena, in der die Kämpfe um die entscheidenden Fragen ausgetragen werden? Es wurde von der Politik selbst in den vergangenen zwei Jahrzehnten so viel dereguliert und privatisiert, dass viele mächtige Akteure in die Sphäre des Privaten entschwunden sind und von der Öffentlichkeit nicht mehr haftbar gemacht werden können. Alles ist entgrenzt, und es besteht das Gefühl, als würden blinde Mächte über Wohl und Wehe entscheiden. Jetzt geht es erst einmal darum, die öffentlichen politischen Arenen wiederherzustellen.

Liegt darin ein Teil der Attraktivität der Rechtspopulisten, die die nationale Ebene wieder zu der entscheidenden machen wollen?

Richtig. Sie sprechen damit vielen Frustrierten aus der Seele, die glauben, früher sei alles besser gewesen und wenn wir das Rad zurückdrehen, sei der Einfluss wieder grösser. Damit verheissen sie Orientierung, klare und überschaubare Verhältnisse bei der Entscheidungsfindung. Das ist für viele Bürger attraktiv, auch für diejenigen, die mit rechtspopulistischem Gedankengut nichts gemein haben.

Wo sehen Sie dann Träger fortschrittlicher Ideen?
Es ist sinnvoll, neue Allianzen zu erproben und Strukturen aufzubauen. Ich habe im Dezember in Rheinfelden vor 200 Ärzten und Psychiatern über die Arbeitswelt gesprochen und sehr viel Zuspruch erfahren. Über kurz oder lang landen die oft völlig überbeanspruchten Beschäftigten in deren Praxen oder Spitälern, weil sie krank geworden sind und professionelle Hilfe brauchen. Nun unternehmen wir ein gemeinsames Projekt. Wir erforschen die Folgen der Arbeitsüberlastung und überlegen, was nicht nur individuell, sondern auch kollektiv dagegen gemacht werden kann. Für mich als Soziologe ist das wichtig. Man mag Soziologen nicht, vor allem nicht in der Schweiz; meine Legitimität ist ganz unten angesiedelt. Wenn ich mich aber jetzt mit progressiv und kritisch denkenden Ärzten und Psychiatern zusammentue, dann schaffe ich mir ein Netz, das zu meinen Anliegen und Thesen passt. Und vielleicht müssen wir mit einer solchen Bricolage beginnen und uns der modernen Technik bedienen und neue Formen entwickeln.

Gibt es solche Netze auch ausserhalb der Wissenschaft?
Es gibt sehr viele Initiativen vor Ort: die Ökonomie des Tauschens und des Teilens mit ihren Nachbarschaftsinitiativen, Aktionen für die Begrünung von Städten, Austausch von Dienstleistungen, Hilfe für Zuwanderer – all das sind Versuche, soziale Beziehungen unter einem antiökonomistischen Blickwinkel aufzubauen. Man mag das belächeln, aber wenn Menschen etwas selbst in die Hand nehmen, kann daraus schnell ein Diffusionseffekt entstehen, weil andere das Projekt imitieren.

Dieser Gegenentwurf zu den nationalistischen Angeboten der Rechtspopulisten und zur entgrenzten kapitalistischen Welt erhebt jedoch keinen Anspruch auf Gesellschaftsveränderung, sondern begnügt sich, despektierlich gesprochen, mit dem Niveau der Schrebergartenidylle.
Ich sehe diese Initiativen sehr viel positiver. Man kann sie belächeln – aber es sind immer Menschen, die sagen: Da läuft etwas falsch, und ich tue etwas, damit es wenigstens bei mir vor Ort richtig läuft. Richtig ist aber: Es gibt sogar enorm viele Initiativen, und viele von ihnen konzentrieren sich auf ihre Praxis vor Ort. So haben wir eine merkwürdige Parallelität: Auf der Ebene der Gesellschaft haben wir oft den Eindruck, es herrsche Stillstand, und vor Ort, wenn wir zusammenzählen, was es überall an sozialen und kulturellen Aktivitäten gibt, kann man den Eindruck haben, die Zivilgesellschaft lebt mehr denn je. Beides stimmt und widerspricht sich auch nicht. Es fehlt die Verbindung zwischen diesen beiden Ebenen. Sie fehlt aus zwei Gründen: Viele der örtlichen Initiativen haben tatsächlich nicht den Anspruch, mit anderen zusammen Einfluss auf die gesamte Gesellschaft zu nehmen. Und für die anderen, die das wollen, fehlen – noch – die Knoten­ und Kristallisationspunkte, die Themen, die Organisatoren, die Leitfiguren, um die sich vieles ranken könnte.

In einem Aufsatz skizzierten Sie die neuen Qualitäten, die von den Lohnabhängigen erwartet werden. Dazu gehören Autonomie, Innovationsfähigkeit, Kreativität, Mitreissenkönnen, Neugierde, Risikobereitschaft, Spontaneität, Visionenhaben … All diese Voraussetzungen müssten auch Revolutionäre erfüllen. Ist das eine Chance?
Das meinte vor kurzem auch eine Gewerkschafterin. Solche Werte, sagte sie, müssten auch unsere Gewerkschaftsvertreter verkörpern. Stimmt. Wer kann schon etwas gegen Autonomie haben? Allerdings geht es den Managern um ein Humankapital, das für sie noch mehr Wert und Mehrwert hat als die bisherigen Arbeiter, von denen eher traditionelle Qualitäten wie Gehorsam und Pünktlichkeit verlangt wurden. Dahinter steht das Modell des Entrepreneurs. Das ist möglicherweise auch für gesellschaftliche Bewegungen nützlich. Innovatorische Wege beschreiten, neue Dispositive schaffen, auch Marktanalysen betreiben etwa in der Frage, wie man den Rechtspopulisten das Wasser abgraben könnte – all das wäre denkbar. Nur ein Wert steht nicht in der Managerliteratur: Solidarität.
Wir hochindividualisierten Menschen haben ja die Fähigkeit, das, was um uns und in uns passiert, zu diagnostizieren, die Widersprüche zu sehen. Wir beschleunigen ja auch selber das Arbeitstempo. Und doch ist es so, dass wir kaum schaffen, die Konsequenzen zu ziehen, aus dem Leiden herauszutreten und die Ursachen anzugehen.

Der Druck wird also internalisiert, von Autonomie keine Spur. Wäre es nicht denkbar, dass sich der Grundgedanke der Autonomie mit dem Kollektiven verbinden könnte?
Der Begriff des Kollektiven ist nicht mehr zeitgeistgemäss. Aber es gibt immer Alternativen. Etwa durch eine Aufwertung des anarchistischen Gedankenguts – gegen Hierarchien angehen, sich selber als Individuum erkennen: «Wir können das Leben selbst gestalten, tun wir uns zusammen!».

Diese Managementkonzepte sind mithin fragil und könnten kippen?
Sie könnten gesellschaftskritisch und emanzipatorisch gewendet und fruchtbar gemacht werden.

Sind wir nicht schon unterwegs zu mehr Kollektivität? In Deutschland zum Beispiel sind in den letzten Jahren Hunderte von Energiegenossenschaften entstanden, in denen sich kompetente und selbstbewusste Bürger zusammengeschlossen haben.
Die Frage ist ja immer: Beobachten wir die Lage durch ein Makroskop? Dann hängen wir alle in den Seilen. Nehme ich ein Meso­- oder Mikroskop, bewegt sich vieles. Hat nicht alles einmal klein angefangen? Das ist sicherlich die gesündere Haltung.