erschienen in „WOZ” am 09.07.2015

Wie analysiert man etwas, das noch nicht ist? Indem man die GeburtshelferInnen einer neuen Zeit beschreibt. Ein neues Buch untersucht die Protestbewegungen im krisengeschüttelten Europa.

Steffen Vogel:
«Europa im Aufbruch. Wann Proteste gegen die Krisenpolitik Erfolg haben».
Laika Verlag
Hamburg  2014
184 Seiten

Steffen Vogel hat sich bereits zuvor in einem Buch über «Europas Revolution von oben» (2013) mit der Krisenpolitik selbst beschäftigt: ihrem chronologischen Ablauf, der Umdeutung der Banken- und Finanzmarktkrise in eine Staatsschuldenkrise und den Folgen der in vielen Ländern für die Demokratie zerstörerischen Kürzungen öffentlicher Ressourcen.

Bereits in jenem Buch konstatierte Vogel: Nach der Finanzmarktkrise 2008 sei die Politik des Neoliberalismus radikalisiert und auf alle EU-Länder übertragen worden. Das habe die zuvor bereits geschwächten nationalen Wirtschaften. – abgesehen von Deutschland.– zusätzlich so sehr destabilisiert und damit die soziale Polarisierung so sehr verschärft, dass ein Scheitern dieser «Revolution von oben» möglich sei. Ein Scheitern, das dann zur Geburtsstunde eines sozialen Europas und einer wiedergeborenen Demokratie werden könne. Steffen beschliesst dieses erste Buch mit der Aussage: «Wenn wir den Status quo in Europa unerträglich finden – und das ist er –, dürfen wir nicht auf unsere politischen Eliten warten.»

An dieser Stelle setzt er nun mit seinem neuen Werk an: Wie wirken in diesen Zeiten, in denen Europa einen deutlichen Schwenk hin zum Autoritären macht, die Protestbewegungen? Welche Chance haben sie?

Die Macht der Strasse

Vogel gibt einen fundierten und klug ausgewählten Überblick über Bewegungen und Proteste in den vergangenen Jahren. – verbunden mit einer Dokumentation ausgewählter Protestbewegungen, die vor allem den nicht so kundigen Interessierten einen weiteren Zugang bietet, um Sprache, Argumente und Forderungen der einzelnen Bewegungen, auch denen in Bosnien-Herzegowina oder Bulgarien, besser kennenzulernen. Der Autor wählt nach unterschiedlichen Kriterien aus, was er genauer beschreibt: Proteste in vier Ländern, vom Norden bis in den Süden; Proteste, die sich an prekären Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt und in der Sozialversorgung entzündet haben; Proteste, die ebenfalls wirtschaftliche Ursachen haben, sich jedoch eindeutig gegen politische Eliten und deren Versagen richten. Ein Kapitel ist Spanien gewidmet, wo der Autor eine «geglückte Verbindung von sozialen Alltagskämpfen und grossen politischen Mobilisierungen» diagnostiziert.

In diesen einzelnen Kapiteln werden alle wesentlichen Fragen quasi abgearbeitet: Wo verlaufen die Konfliktlinien, was hat die Proteste ausgelöst, welche Gruppen tragen sie, welche Rolle spielen die Gewerkschaften, sind die Proteste «offen» nach rechts, und welcher Nationalismus spielt eine Rolle: der rechte oder der linke?

Diesen Überblick über die Proteste in zahlreichen EU-Ländern, den Vogel auch nutzt, um die markantesten Unterschiede herauszuarbeiten, fasst er so zusammen: «Der Druck auf die Regierungen steigt, die Macht der Strasse ist grösser als allgemein angenommen.»

Reicht die Kraft?

Kernstück seines Buchs ist das gut dreissigseitige Kapitel, in dem Vogel aus der Vielfalt das Allgemeingültige herausarbeitet. Seine Leitfrage: Haben die sozialen Bewegungen die Kraft, einen Richtungswechsel durchzusetzen oder bei diesem wenigstens nennenswert mitzuhelfen? Als einen von mehreren wichtigen Befunden nennt Vogel: Die Bewegungen seien breit in den Gesellschaften verankert, da sie oft «ein loses Bündnis dreier Generationen» darstellen, dass also Junge und Alte, Berufstätige, RentnerInnen und Studierende ebenso wie verschiedene soziale Schichten am Protest beteiligt sind.

Vogel arbeitet über eine Zeit und über Länder, in der und in denen das Bestehende zu vergehen scheint und das Neue noch nicht besteht. – dafür aber ein Vakuum vorhanden ist, das die unterschiedlichsten Bewegungen mit ihren ebenso unterschiedlichen Interessen und Vorstellungen zu füllen und zu prägen versuchen. Es ist eine grosse Herausforderung, ausschliesslich über das Noch-nicht-Vollzogene zu arbeiten. Mit der Dichte der (teilweise sehr detailreichen) Informationen, dem unaufgeregten und sehr ergiebigen analytischen Tiefgang und der knappen, klaren Sprache legt Steffen Vogel ein Buch vor, das nur zu empfehlen ist.

Die Wochenzeitung