KOLUMNE – erschienen in „neues deutschland” am 30./31.05.2015
Wolfgang Storz will die Sphäre der Produktion politisieren und so die Machtfrage in der Industrie 4.0 stellen
Die Umwälzung ist seit einigen Jahren im Gange. Sie kann viel nützen, aber auch großen Schaden anrichten. Sie legt unser aller Zukunft fest. Trotzdem ist sie bis heute Thema von Fachkongressen, Enquetekommissionen, Unternehmerverbänden, Gewerkschaften und Wirtschaftsjournalisten geblieben. Ihr offizieller Name macht das, was im Gange ist, zu klein und verharmlost: Industrie 4.0. Es geht um weit mehr als die »vierte industrielle Revolution«. Dieses Mal wird sich alles verändern: bei weitem nicht nur Produkte, Produktion, Vertrieb und Arbeit in der Industrie, sondern auch Arbeit und Abläufe im Sektor der Dienstleistungen, ob Finanzen, Gesundheit oder Bildung. Die Digitalisierung des Ökonomischen wird Arbeit und Leben grundlegend verändern – digitales Lernen, autonomes Auto, 3-D-Drucker, selbstlernende Computer, Roboter allerorten, auch in der Pflege.
Seit Jahren wird in den Entwicklungszentren der großen Konzerne und in zahlreichen Universitäten, von Steuerzahlern finanziert, an dieser neuen Welt gearbeitet, in der alles und alle miteinander kommunizieren werden: die Teile einer Maschine untereinander, die Maschinen miteinander, die Maschinen mit den Produzenten, die Maschinen mit den Konsumenten. Eine Entwicklung, die uns zu überrollen droht, bevor wir eine rechte Ahnung von ihr haben.
Die Unternehmen feiern sich, ihre Investitionen und neuen Techniken, verkünden Visionen und Werte, reklamieren damit für sich die Zuständigkeit für die Zukunft. Und die Politik? Sie droht zur Restgröße zu schrumpfen, zum Zeremonienmeister auf den allfälligen Konferenzen und Messen, auf denen die Unternehmen ihre Industrie 4.0-Welt präsentieren.
Ein Zitat: »Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit….«, insbesondere indem sie politische Bildung und aktive Teilnahme der Bürger fördern, die Demokratie lebendig halten und so weiter und so fort. Erinnern Sie sich? Sätze aus dem Parteiengesetz, ein Text wie aus einer untergegangenen Welt. Wie sollen die Parteien das meistern, politisch abgemagert bis auf die Knochen: Die Beteiligung an Wahlen nimmt ab. Die Zahl ihrer Mitglieder schrumpft, und die, die bleiben, sind überdurchschnittlich alt und meist männlich; repräsentativ ist anders. Weil sie so schwach sind, erschöpfen sie sich in alltäglichem Klein-klein. Und weil ihr Alltagspragmatismus oft orientierungslos ist, auch deshalb ziehen die Parteien so wenige Bürger an. Wenn es um Zukunft, Visionen und Werte geht, sind Unternehmen, als übriggebliebene starke kollektive Organisationseinheiten in Zeiten der Vereinzelung, die lautesten; es sei fairerweise erwähnt, dass die Linkspartei beginnt, über einen »Sozialismus 2.0« nachzudenken.
Daran müssten doch alle Parteien Interesse haben: dass sie sich wenigstens ihr letztverbliebenes ureigenstes Geschäft nicht endgültig entreißen lassen – das Nachdenken über und Herstellen von künftiger Politik.
Die Digitalisierung der Gesellschaft – wann lag in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein größeres Thema auf dem Tisch? Eine Entwicklung, die noch in diese oder jene Richtung gesteuert werden kann: Was nützt der Gesellschaft und wird deshalb gefördert, was schadet und wird deshalb gestoppt? Wofür wird der enorme Produktivitätsschub genutzt: für höhere Gewinne oder für sehr viel kürzere Arbeitszeiten? Lässt die Gesellschaft das geschehen, was Konzerne entwickeln und wollen, dann sind Parteien, Politik und Gesellschaft auf Jahrzehnte hinaus Getriebene und Gefangene des so Vorgesetzten.
Die Politik wagt sich anzumaßen, eine Debatte über Schaden und Nutzen von Techniken und Produkten zu führen und dann zu entscheiden. Jede Technik wird nach den Interessen derjenigen entwickelt und eingesetzt, die das Geld und die Macht haben; neutral ist sie nie. Deshalb ist es sinnvoll, diesen Digitalisierungsprozess der Alleinverfügung der Unternehmen zu entreißen. Es ist zudem sinnvoll, in dieser Entwicklung eine Machtfrage zu sehen, deshalb die Sphäre der Produktion zu politisieren und so zu einer Angelegenheit der Gesellschaft zu machen.