erschienen in „WOZ” am 18.04.2013
Warum leben die Menschen trotz Klimakrise und Ressourcenknappheit gerade so weiter? Ein neues Buch beschäftigt sich mit dieser Frage – und gibt Empfehlungen für ein Umdenken.
Harald Welzer
Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand.
Frankfurt am Main 2013.
Harald Welzer ist wohl des Redens müde. Deshalb schrieb er ein sehr anregendes Buch, um sich und andere anzustiften, die Welt zum Besseren zu verändern. Im Gegensatz zu den vielen SkeptikerInnen sieht er gute Chancen: Für einen Kurswechsel müsse niemand Mehrheiten gewinnen, argumentiert er, es reichten fünf Prozent einer Gesellschaft. Übrigens behält er diesen Optimismus, obwohl er zugleich konstatiert, dass sich hinter dem Rücken der Regierungen eine Wirtschaftsautokratie herausgebildet habe, bestehend aus etwa 150 Unternehmenseinheiten, vornehmlich aus den Branchen Finanzen und Energie, die weltweit das Sagen hätten.
Die fünf Prozent können offensichtlich auch denen einheizen, vorausgesetzt, sie kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten, nicht nur aus einer. Und dann gebe es noch eine Voraussetzung, so Welzer: Diese fünf Prozent müssten spannende Geschichten über gelungene Projekte der Veränderung und über Vorbilder erzählen können, das stecke an. Bloss keine Dramatisierung mehr und kein Angstmachen à la «Es ist fünf vor zwölf» und Ähnlichem – das lähme nur.
Erinnerung an die eigene Kindheit
Der Sozialpsychologe, der viele Jahre über Fragen von Gewalt und Gewaltbereitschaft geforscht und sich damit einen Namen gemacht hat, stellt nicht die Frage in den Mittelpunkt, was schiefläuft in der deutschen und den meisten westlichen Wirtschaftsgesellschaften. Sein Buch richtet sich eher an jene, die deren Zustand so wie er analysieren.
Der 54-jährige Autor beschreibt am Beispiel seiner eigenen Kindheit, mit welchem Denken und Fühlen ganze Generationen aufgewachsen sind. Er erinnert sich an die vielen Comic- und Jugendheftchen, die von «unserem Freund – dem Atom» handelten, von den Verheissungen des unerschöpflichen «Öls für uns alle», von der Mondlandung, von den Versprechen des segensreichen technischen Fortschritts. Diese Logik der permanenten Steigerung, die «Wachstumsreligion», präge unverändert politische Entscheidungen, das Wirtschaften und die Lebensweise der meisten Menschen.
Welzer nennt das Versenken dieser Vorstellungen in das menschliche Innenleben die «tiefe Industrialisierung». Nun drohe die bisherige Erfolgsgeschichte in eine «des Scheiterns umzuschlagen». Es gehe nicht um Korrekturen, «sondern um eine Umkehr». Denn inzwischen habe das überhandgenommen, was sich an Problemen lange schon anbahnte: die Knappheit der Ressourcen, die Klimakrise, die Zerstörung der Umwelt und der verschwenderische Konsumismus mit seiner Kraft, «jegliche Gegenbewegung zu vereinnahmen».
Da muss noch mehr drin sein
Für Welzer ist klar: So kann es nicht mehr weitergehen. Und darin steckt das Thema seines Buchs: Warum leben die meisten Menschen einfach so weiter? Er beschäftigt sich mit dem «Nachhinkeffekt des sozialen Habitus» (Norbert Elias) und der «Apokalypseblindheit» des Menschen (Günther Anders). Mit der geringen Wirkung von Appellen an Vernunft und Einsicht. Mit der Kraft der Selbstwirksamkeit. Mit der verhängnisvollen Rolle von Erfahrung. Mit dem Lernen von Widerständigkeit. Mit dem Druck der Konformität auf den kooperativ und sozial geprägten Menschen. Aufgrund der Anpassungsfähigkeit des Menschen, die es ihm erschwere, gesellschaftliche Verfallserscheinungen angemessen und rechtzeitig zu registrieren, könne er diesen Zerfall als Teil der Gesellschaft nicht überblicken. Das Ziel von Welzer: «In diesem Buch geht es darum, unseren Tunnelblick zu therapieren.»
Und so beschreibt er Projekte und Menschen, die einen anderen Kurs einschlagen. Damit will Welzer Mut machen. Doch oft sind es Beispiele, die schon länger bekannt sind: die Carsharing-Projekte, die Geschenkboxen, die StromrebellInnen von Schönau, die Schuhfabrik im österreichischen Waldviertel oder neue Genossenschaften wie die GLS-Bank (siehe dazu auch das Buch «Wirtschaft zum Glück», Rotpunktverlag, Zürich 2012). Diese Beispiele entmutigen eher, zeigen sie doch, wie wenige wirksame Projekte in den letzten zwanzig Jahren entstanden sind, wie wenige Menschen sich bereits einen Kurswechsel zu eigen gemacht haben. Aber vielleicht regen sie ja auch an, nach der Devise: Da muss noch mehr drin sein.