erschienen in der „WOZ” am 05.09.2013
Regierungen stehen dann gut da, wenn die Opposition nichts auf die Reihe bekommt. Das ist zugegebenermassen ein Gemeinplatz. Doch manchmal trifft er zu, wie derzeit in Deutschland.
Am Sonntagabend hatte Peer Steinbrück die letzte Chance, das Ruder noch herumzureissen für seine SPD und für die Opposition insgesamt – die im Schlafwagen liegend unterwegs zu sein scheint und nicht auf den Wahlkampfbarrikaden steht, eisern entschlossen, Angela Merkel zu stürzen. Grosses Fernsehduell: neunzig Minuten amtierende Kanzlerin gegen den Kanzlerkandidaten der SPD. Die Bedeutung solcher Duelle steige, sagen Untersuchungen, weil sich immer mehr Menschen erst kurz vor der Wahl entscheiden würden, zurzeit seien noch über vierzig Prozent unentschlossen. Und wie war das Duell? Sachlich überraschend kontrovers, aber ohne Leidenschaft und mit viel Politkauderwelsch, ohne klare Vorteile für den einen oder die andere.
Die sparsame Hausfrau
Wahlkampfdeutschland ist merkwürdig gestimmt. Die grosse Banken-, Finanz- und Eurokrise weicht in den Nachbarstaaten die politischen und wirtschaftlichen Fundamente auf – aber darüber mag niemand reden, man scheut die Krise. Während Medien wie der britische «Economist» die europäischen RegierungschefInnen am Abgrund zeigen, sehen die meisten WahlkämpferInnen Deutschland als Stabilitätsanker von Europa. Es fehlt bei Diagnose und Therapie jene Kühnheit, die der Dramatik der Krise angemessen wäre. Und schon allein aufgrund ihres kruden Verständnisses von der «marktkonformen» Demokratie müsste Angela Merkel von allen Seiten herausgefordert werden – stattdessen liegt über Deutschland wenig angefochten das Stereotyp, dass im Kanzleramt eine schwäbische Hausfrau spart und Schulden abbaut.
Eine grosse Mehrheit der Deutschen ist sich sicher: Dem Land geht es gut, die präsidiale Kanzlerin wird weiterregieren. Manfred Güllner vom Umfrageinstitut Forsa sieht Merkel mit einem «unglaublichen Popularitätspanzer» ausgestattet; Gregor Gysi, Spitzenkandidat der Partei Die Linke, erkennt «derzeit keine wirkliche Wechselstimmung in der Bevölkerung». Nebensächlich scheint zu sein, ob Merkel mit der SPD (wahrscheinlich), der FDP (nicht ausgeschlossen) oder den Grünen (wenig wahrscheinlich) koaliert – alle Optionen gelten als möglich. Nur Minderheiten schenken dem Wahlkampf deshalb Aufmerksamkeit. Das Meinungsforschungsinstitut Allensbach weiss: «Nur 39 Prozent haben sich in letzter Zeit öfter mit anderen über Politik im Allgemeinen unterhalten, ganze 29 Prozent über die bevorstehende Bundestagswahl. Ein so niedriger Wert wurde kurz vor einer Bundestagswahl noch nie gemessen.»
Sehnsucht nach Ruhe
Ein ebenso vielsagendes wie letztlich skurriles Umfrageergebnis des Meinungsforschungsinstituts Emnid illustriert die Rolle der Kanzlerin. Auf die Frage, ob sie mit Angela Merkel zufrieden seien, antworteten 56 Prozent mit Ja. Auf die Variation, ob sie mit der von Union und FDP geführten Bundesregierung zufrieden seien, antworten lediglich 38 Prozent mit Ja – ein Unterschied von 18 Prozent.
Woher rührt also Merkels öffentliches Ansehen, die Quelle ihrer politischen Kraft? Viele Menschen, so heisst es, seien der Unsicherheiten und Veränderungen müde. Sie sorgen sich um die Geldwertstabilität, um die weiteren Folgen der anhaltenden Finanzmarktkrise und darum, dass auch sie in prekäre Arbeitsverhältnisse gezwungen werden könnten. Vor diesem Hintergrund gewinnen psychoanalytische Untersuchungen über die Kraft von «Mutti», so Merkels parteiinterner Spitzname, an Bedeutung.
Für den Psychotherapeuten Tilmann Moser etwa spielen «Mechanismen der Bindung, der Loyalität und der Sehnsucht nach Ruhe» eine wichtigere Rolle «als die Inhalte der Politik». Man lasse nichts mehr auf die Zentralfigur kommen – schon gar nicht, wenn diese Zentralfigur unaufgeregt handelt, als mächtigste Frau der Welt gilt und ganze Völker zur «Tugend des Sparens» zwingt. Merkel entspreche im kollektiven Unbewussten dem «archaischen Bild der schützenden und versorgenden Mutter». Eine Mutti mit Chuzpe freilich: «Die Lage unseres Landes ist gut», wiederholt Merkel gern, und ihre Regierung «die erfolgreichste seit der Wiedervereinigung».
Unter diesen Bedingungen fällt es der Opposition schwer, ihre AnhängerInnen zu mobilisieren – zumal ihr für den entscheidenden Kraftakt der Mut fehlt: Merkels Sparwahnpolitik zu zertrümmern und darzulegen, welche Unsicherheiten und Verwerfungen diese Politik in Europa schafft. SPD und Grüne haben Merkels Krisenmanagement im Bundestag stets zugestimmt. Und die Unterschiede ihrer Politik zu jener der bisherigen Regierung haben SPD, Grüne und Die Linke zumindest bisher nicht klar in den Mittelpunkt gerückt: Sie wollen gemeinsam einen stärkeren Staat, die Finanzmärkte regulieren, hart gegen Steuerkriminalität vorgehen und den Reichen Geld wegnehmen, um damit die öffentliche Infrastruktur zu modernisieren.
Diese Themen werden freilich auch von einem machtstrategischen Desaster überdeckt: Sowohl die SPD wie auch die Grünen wollen die Partei Die Linke marginalisieren; allein Rot-Grün soll Merkel ablösen. Alle Umfragen signalisieren aber seit langem, dass ein Regierungs- und Politikwechsel nur zusammen mit der Linkspartei möglich ist. Doch Die Linke wird vor allem von der SPD-Führung unverändert stigmatisiert: Mit ehemaligen SED-Schergen und mit Oskar Lafontaine werde man nicht kooperieren. Laut Umfragen liegen die Grünen bei etwa 12, die SPD bei 25 und Die Linke inzwischen bei bis zu 10 Prozent. Die SPD-Spitze, so der Politikwissenschaftler Gerd Mielke, verhalte sich wie ein Fussballtrainer, der freiwillig nur acht oder neun Spieler antreten lasse statt elf.
Dass dies auf Dauer nicht gut gehen kann, zeigt sich jetzt. Führende PolitikerInnen von den Grünen und der SPD investieren in Hinterzimmerdebatten offenbar schon recht viel Energie darauf, wie sie mit der bevorstehenden Niederlage umgehen sollen und wer daran Schuld hat. Zeitungen berichten, dass sich der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel nach der Wahl zügig zur Linkspartei hin öffnen wolle. Eventuell, so die Spekulation, könne noch in der bevorstehenden Legislaturperiode ein Regierungswechsel herbeigeführt werden – mithilfe der Linksfraktion oder nur mit ihrem gemässigteren ostdeutschen Teil.
Von diesen Zerfallserscheinungen profitiert die Partei Die Linke: Sie legte in den letzten Umfragen kontinuierlich zu und könnte in die Nähe des Bundestagswahlergebnisses von 2009 kommen, als sie 11,9 Prozent der Stimmen erzielte. Wenn es Rot-Grün allein nicht schafft, mögen sich manche denken, kann ich gefahrlos auch «richtig links» wählen.
Ein ähnliches Muster ist auch am anderen Ende des Parteienspektrums denkbar. Dort könnte die rechtskonservative Alternative für Deutschland (AfD) von der Gewissheit der Merkel-AnhängerInnen profitieren. Die bleibt sowieso Kanzlerin, also können wir die Eurokritiker stärken (vgl. «Grosse Koalition dank Alternative von rechts?», Seite 10).
Rot-grüne Stärke in den Ländern
Die Bundestagswahl am 22. September ist nicht die einzige Wahl im Herbst. Eine Woche zuvor wird in Bayern gewählt; dort könnte die CSU sogar eine absolute Mehrheit erreichen. Und ebenfalls am 22. September entscheidet die hessische Bevölkerung über die Zusammensetzung des Landtags in Wiesbaden: CDU und FDP einerseits und SPD und Grüne andererseits liefern sich dort allem Anschein nach ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die CDU könnte also Hessen verlieren – so wie sie in den letzten Jahren viele Bundesländer verloren hat: Hamburg (2011), Baden-Württemberg (2011), Schleswig-Holstein (2012), Nordrhein-Westfalen (2012) und Niedersachsen (2013).
Die SPD und die Grünen sind in den Ländern stark und im Bund schwach, bei der CDU verhält es sich umgekehrt. Ihr ist buchstäblich der Unterbau weggebrochen. Dennoch ist die Parteivorsitzende bundesweit unangefochten. Was macht sie so stark?
PolitikwissenschaftlerInnen nennen drei Punkte. Da ist zum einen die Sozialdemokratisierung ihrer Partei, die Merkel zwar nicht glaubwürdiger, aber unanfechtbarer macht und den Eindruck vermittelt, sie sei lernfähig. Ob Energiewende, Homoehe, Mindestlohn oder Finanztransaktionssteuer – die Politik der CDU besteht im Kern nur noch aus weichgespülten Forderungen der Opposition. Sie ist heute sozialdemokratischer, als es die SPD unter Gerhard Schröder war. Der zweite Grund liegt im machtpolitischen Defizit der Opposition, zu dem Gregor Gysi nur noch verzweifelt einfällt: «Irgendwann begreift die SPD, dass sie ohne uns keinen Kanzler kriegt und kaum Soziales durchsetzen kann.»
Der dritte Grund hat mit der anhaltenden Schwäche der SPD zu tun. Viel spricht für die These, dass die «Agenda 2010» der rot-grünen Schröder-Regierung (1998–2005) der SPD das Genick gebrochen hat, kollidiert diese Politik – verantwortlich für die Verbreitung von Billiglöhnen und die Schwächung der Gewerkschaften – doch mit zentralen Werten der deutschen Sozialdemokratie. Es ist vermutlich auch kein Zufall, dass die SPD nach Frank-Walter Steinmeier (2009) mit Peer Steinbrück nun bereits zum zweiten Mal einen Kanzlerkandidaten aufgestellt hat, der von seinem Werdegang her kein klassischer Politiker und Parlamentarier, sondern ein politischer Bürokrat ist – ausserstande, die Probleme des Landes mit Biss, Konsequenz und klaren Alternativen zu thematisieren.
Die Reichen reicher, der Staat ärmer
Und Probleme gibt es genug. «Hundert Milliardäre stehen 2012 an der Spitze von 345 000 Vermögensmillionären», bilanziert der Sozialhistoriker Hans Ulrich Wehler die deutschen Verhältnisse: «Die deutschen Reichen waren noch nie so reich wie in der unmittelbaren Gegenwart.» Wegen drastischer Steuersenkungen für Wohlhabende und Unternehmen wurden diese noch reicher, der Staat zugleich ärmer. Eine der Folgen: In Teilen verkommt die öffentliche Infrastruktur.
ForscherInnen der Bundesagentur für Arbeit haben zudem jüngst herausgefunden, dass etwa sechs Millionen Menschen in Deutschland Hartz-IV-Leistungen (auf Sozialhilfeniveau) erhalten, die Zahl der Bezugsberechtigten aber bei rund zehn Millionen liegt. Vier Millionen beantragten keine Unterstützung – aus Scham, aus Unwissenheit oder weil sie sich nicht dem entwürdigenden Prozedere einer persönlichintimen Überprüfung aussetzen wollen. Die Armut ist massiv grösser als offiziell registriert. Weil das Rentensystem von Rot-Grün teilprivatisiert wurde, droht vielen BürgerInnen Armut im Alter.
Prekär sind auch die Arbeitsverhältnisse. Der Niedriglohnsektor ist unverändert gross: Mehr als sieben Millionen Beschäftigte verdienen brutto weniger als 8,50 Euro die Stunde; nur Lettland, Litauen, Rumänien und Polen haben in der EU einen höheren Anteil an Geringverdienenden. Und die Lobhudeleien der Regierung über die Zuwächse auf dem Arbeitsmarkt sind mit Vorsicht zu geniessen: Die StatistikerInnen werten bereits Arbeitsplätze mit lediglich 21 Stunden pro Woche als Vollzeitstellen. Zu den materiellen Folgen kommen kulturelle: Arbeit, die für viele Menschen identitätsstiftend ist, wird entwertet.