erschienen in „WOZ” am 14.05.2015
Geht das kapitalistische System zugrunde – und woran? Und falls es abstirbt: Was folgt? Ein neues Buch zeigt fünf unterschiedliche Ansätze und Denkmodelle.
Die fünf Autoren des vorliegenden Buchs «Stirbt der Kapitalismus? Fünf Szenarien für das 21. Jahrhundert» zeigen sich beunruhigt, «dass es unzeitgemäss – oder sogar anstössig – geworden ist, über die Zukunft der Welt und speziell des Kapitalismus zu sprechen». Wohl auch deshalb gibt es dieses Buch, mit einem Ausgangspunkt, der es in sich hat: «Wir leben in einer Strukturkrise, in der es einen Kampf um das Nachfolgesystem gibt.» Wir MedienkonsumentInnen kennen die Stresstests für Banken. Hier wird nun aber gleich der Kapitalismus einem solchen Test unterzogen. Das Buch ist weithin verständlich geschrieben und damit auch von interessierten LaiInnen – Konzentration vorausgesetzt – gut lesbar. Warum ist dieses Buch besonders empfehlenswert? Fünf weltweit renommierte Makrosoziologen – für ein breiteres Publikum mag Immanuel Wallerstein, Gründer der Weltsystemanalyse, der bekannteste sein – vertreten nicht nur getrennt ihr jeweils sich deutlich von den anderen unterscheidendes Szenario. In einem ausführlichen gemeinsamen Vorwort und einem knapp vierzigseitigen Fazit arbeiten sie zudem Unterschiede, Widersprüche und Übereinstimmungen heraus.
Verschwindet der Mittelstand?
Wallerstein wagt sich am weitesten vor: Er gibt dem jetzigen System nur noch wenige Jahrzehnte. Es gebe keine Möglichkeit mehr, den Kapitalismus so zu reformieren, dass er seine Fähigkeit «zur unablässigen Kapitalakkumulation » wiedergewinnen könne. Randall Collins prognostiziert Ähnliches, sieht den Grund jedoch im Schicksal der Mittelschichten: Sie, die zuvor die Industriearbeiterklasse beerbt hätten, würden aufgrund der enormen technischen Rationalisierung, vor allem auf Basis der Informations- und Kommunikationstechniken, verschwinden. Je intensiver die künstliche Intelligenz entwickelt werde, umso mehr höherwertige Arbeitsplätze würden von Maschinen ersetzt werden. Es gebe keinen Ausweg mehr, diese Verluste zu kompensieren. Michael Mann konzentriert sich auf die Gefahren der Umweltverschmutzung und sieht dafür «die drei grossen Errungenschaften der Moderne – Kapitalismus, Nationalstaat und Bürgerrechte» als verantwortlich an. Er ist es, der pointiert Thesen und Aussagen von Wallerstein relativiert und deutlich andere Akzente setzt. Mann: «Warum sollte eine Wachstumsrate von einem Prozent eine Krise sein?» Er sieht zudem die globale Linke als schwächer denn je und religiöse Ideologien, die sich dem «ausserweltlichen Heil» verpflichtet fühlen, als die kommenden globalen Ideologien. Bei Georgi Derluguian steht die Frage nach Aufstieg und Fall der Sowjetunion im Mittelpunkt und damit der Versuch, aus deren Niedergang Erfahrungen abzuleiten, wie Übergänge von einem System zum anderen aussehen könnten. Craig Calhoun wiederum stärkt die These, dass vor allem «Finanzialismus und Neoliberalismus» den Kapitalismus schwächen würden. Denn dieser sei darauf angewiesen, dass andere Institutionen die Kosten tragen, die er verursache, insbesondere soziale und ökologische. Genau diese – von der Familie über Aufsichtsbehörden bis zum Staat – würden nach und nach geschwächt, und damit sei das Funktionieren des Kapitalismus gefährdet.
Alternative Optionen
Wer eine letztgültige Antwort erwartet, wird enttäuscht. Das Schlusskapitel von Mann trägt die Überschrift: «Das Ende ist nah oder auch nicht». Die Pfade, Perspektiven und Positionen sind nie deckungsgleich. Die Autoren beziehen sich aufeinander, schreiben nicht aneinander vorbei. Das macht die Lektüre ausgesprochen profitabel. Das Fazit: «Wir sind uns einig, dass die Welt in eine stürmische und dunkle Geschichtsperiode eingetreten ist, die einige Jahrzehnte andauern wird.» Sie verbinden das Düstere jedoch sehr wohl mit Optimismus: Der Ausgang sei offen. Es gebe bereits in Normalzeiten alternative Optionen. Diese Optionen würden jedoch «ungeheuer erweitert in Zeiten der Krise, wenn die gewohnten Mechanismen versagen». Mit anderen Worten: Auf starke Nerven und die richtigen politischen Bewegungen kommt es an. Dann könnte «der Weg der Menschheit (…) eine Wende nehmen, aber es muss keine zum Schlechteren sein».