WOZ-Gesprächsserie: WEITER DENKEN, ANDERS HANDELN. TEIL 5, erschienen am 07.11.2013

In nicht allzu langer Zeit könnte die globalisierte Welt in regionale Machtblöcke zerfallen, die sich bekämpfen, sagt Peter Niggli von Alliance Sud. Es sei denn, neue Bewegungen verhindern die fortschreitende Entdemokratisierung.

WOZ: Peter Niggli, zu einer Demokratie, heisst es, gehören selbstbewusste und widerständige Bürger und Bürgerinnen. Wo kann man in Westeuropa Widerstand lernen?
Peter Niggli: Sicher nicht an Schulen und Universitäten. Widerständiges Lernen wird nicht als Kurs angeboten, es gehört nicht zur Grundausbildung der Menschen. Die meisten hätten oder haben Gelegenheit, so etwas zu lernen, wenn sie in Situationen geraten, in denen Entscheidungen gegen ihre Interessen getroffen werden. Das ist in Unternehmen der Fall und kann bis zum Streik führen, aber auch zum individuellen Abgang, wenn kollektive Aktion unmöglich oder – im Büro – kulturell undenkbar scheint. Viele Menschen stehen immer wieder vor der Alternative, sich geschlagen zu geben oder zu versuchen, ihre Interessen durchzusetzen. Schliesslich gibt es in unseren Gesellschaften oft Wellen politischer Mobilisierung mit nachhaltiger Wirkung. In der Schweiz mobilisierte beispielsweise die Abstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum EWR 1992 die alte Anti-Europa-Rechte ebenso wie jüngere Leute, die sich für einen Beitritt zur Europäischen Union engagierten.

Und wer trägt das weiter? Werden Erfahrungen aus solchen Mobilisierungs- und Widerstandswellen an die nächsten Generationen weitergegeben?
Je nachdem. In der Schweiz funktionierte das leider sehr gut. Die EWR-Abstimmung war der Startschuss zum Aufstieg einer rechtsradikalen Partei, der SVP, zur stärksten Partei des Systems.

Spielt das politische System eine Rolle? Wir haben in Frankreich ein eher zentralistisches System, in Deutschland ein föderales, und in der Schweiz gibt es einen hohen Anteil direkter Demokratie. Befördert das eine System den Widerstand in politisch-emanzipativer Hinsicht stärker als das andere?
Sie färben die Art und Weise, wie sich solche Bewegungen äussern. In Frankreich spielt man seit der Französischen Revolution den «Aufstand» der Massen gegen den Monarchen, typischerweise ist dort der Präsident ein kleiner König. Das ist französische politische Kultur – meistens von links besetzt, aber nicht nur, wie wir bei der Mobilisierung gegen homosexuelle Ehen in Frankreich erlebt haben. Dort wählen die Menschen nicht den Weg über die politischen Institutionen, sondern machen auf der Strasse öffentlichen Druck. In der Schweiz ist es genau umgekehrt.
Aber was ist unter «etwas verändern, etwas voranbringen» zu verstehen? Verstehe ich darunter schrittweise Veränderungen oder einen Umsturz, einen grundlegenden Wechsel? Das System der Schweiz eignet sich für grundlegende Wechsel sehr schlecht. Das haben in den siebziger Jahren all die Jungrevolutionäre, auch ich, schmerzhaft gelernt. Wir hatten grosse Ideen, wir wollten die soziale Revolution, und dann erlebten wir viermal jährlich in den Volksabstimmungen furchtbare Niederlagen. Uns wurde periodisch eingehämmert, dass wir eine absolut kleine Minderheit sind. Das hat die Schweiz vielleicht vor linksradikalem Terror bewahrt, sonst hätten wir, so verknüpft, wie die hiesige Linke mit der deutschen und vor allem der italienischen war, wahrscheinlich ähnliche Gruppen in viel grösserer Stärke gehabt.

Volksabstimmungen haben also eine pazifizierende Wirkung? Eine ernüchternde Wirkung.
Fünf Jahre nach Beginn der Finanzmarktkrise sind die Märkte immer noch unreguliert, die Macht der Banken ist ungebrochen. Nur in Island kam es zu einer öffentlichen Aufarbeitung der Ursachen. Dort wurde eine linke Regierung gewählt und das Bankensystem komplett geändert. Wie entsteht so etwas?
Wenn es den Euro nicht gäbe, wäre auch der Handlungsspielraum in Irland, Griechenland, Spanien oder Portugal grösser. Island hat den Euro nicht.

Die Rahmenbedingungen sind also entscheidend?
Die ökonomischen Rahmenbedingungen in Island waren und sind entschieden anders als in den Staaten der Eurozone, und das ist wichtig, wenn wir über den Zustand von Demokratie und politischer Bewegung sprechen. In der EU und noch viel stärker in der Eurozone sind zentrale wirtschaftspolitische Entscheidungen von den Mitgliedstaaten an Brüssel delegiert. Wirtschaftspolitische Regeln werden von den Regierungen ausgehandelt, ohne dass die Parlamente oder Parteien in den einzelnen Mitgliedstaaten wirklich etwas dazu zu sagen hätten. In der Eurozone entfällt zudem die geldpolitische Autonomie. In diesem Sinn ist die EU ein neoliberaler Traum. Wichtige wirtschaftliche Fragen, von denen die Leute angeblich nichts verstehen, werden durch Funktionseliten entschieden, abseits von Zwängen einer plebiszitären Zustimmung oder einer Wahldemokratie.

Island hat durch seine nationalstaatliche Situation mehr Freiheiten, mehr Autonomie. Dort können Bürgerinnen und Bürger Einfluss auf ihre Regierung nehmen, während im EU- und Eurorahmen Resignation herrscht: Man kann ja wegen der vielen Sachzwänge sowieso nichts ändern.
Seit über dreissig Jahren, seit 1980, versuchen die westlichen Funktionseliten, wirtschaftspolitische Entscheidungen aus dem nationalstaatlichen Rahmen herauszunehmen. Das herausragendste Beispiel sind die Verträge der 1994 gegründeten Welthandelsorganisation. Sie begrenzen heute den Spielraum für Marktregulierungen der Mitgliedstaaten. Dem kann sich auch Island nicht entziehen. Die EU ging mit dem Binnenmarkt und dem Euro aber einen grossen Schritt weiter. Wirtschaftliche Gesetzgebung und Geldpolitik werden zwischen den Regierungen ausgehandelt und durch zentrale Institutionen umgesetzt, während andere Bereiche – die Steuern, der Sozialstaat, die Arbeitsbeziehungen, mit Ausnahme der Freizügigkeit – den Staaten überlassen bleiben. So wurde ein Feld geschaffen, auf dem man soziale Anliegen und etwa den Ausgleich zwischen Reich und Arm in einen Wettbewerb gespannt hat, bei dem man nicht gegen oben kämpfen, sondern nur noch abwehren kann – und meistens verlieren wird. Das ist das Spezielle an dieser Konstruktion. Es gab natürlich gute Gründe für den Binnenmarkt, seine Ausgestaltung schwächt aber die demokratische Einflussnahme durch jene sozialen Kräfte, die sich nicht so einfach transnational, europaweit artikulieren können. Heute argumentieren viele, etwa in Deutschland, es sei nicht vorstellbar, nun zu getrennten nationalen Märkten zurückkehren, und empfehlen das Gegenteil: noch mehr politische Entscheidungen in Brüssel zu bündeln. Aber ist eine politische Körperschaft vorstellbar, die von Tallinn bis Gibraltar reicht? Und ist darin so etwas wie demokratische Öffentlichkeit möglich?

Eine europäische Öffentlichkeit ist schon wegen der verschiedenen Sprachen schwer möglich. Wäre das öffentliche Bewusstsein wesentlich anders, wenn es dieses Gebilde der Sachzwänge und der Konzentration der Kompetenzen in Brüssel nicht gäbe?
Ich kann mir das vorstellen. Ein Binnenmarkt light wäre denkbar im Rahmen einer Europäischen Gemeinschaft, wie es sie vor 1985 gab. Es wäre auch eine Währungskoordination vorstellbar. Mindestens genauso wichtig aber ist, sich darüber klar zu sein, dass die einzelnen Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Entwicklung auf unterschiedlichen Stufen stehen und dass sie mehr Spielraum brauchen für eine nationale Politik.

In der Schweiz gäbe es einen solchen Spielraum. Doch den hat man nicht genutzt und stattdessen die UBS mit Milliarden gerettet.
Die Finanzkrise von 2008 berührte die Schweiz anfänglich nur wegen der Banken – sie hatten in allen erdenklichen Spekulationsblasen der USA, Englands, Irlands und Spaniens mitgemischt. Die UBS stand deswegen im Herbst 2008 am Abgrund. Eine einheimische Spekulationsblase hat es hingegen nicht gegeben. Wäre die Bank untergegangen, hätte das allerdings auch schweizerische Unternehmen – und auch Private – stark in Mitleidenschaft gezogen, denn die UBS war zugleich einer der grössten Kreditgeber im Land. Ich glaube nicht, dass man die UBS hätte bankrottgehen lassen sollen.

Gegenwehr hängt stark von nationalen und ökonomischen Rahmenbedingungen ab, sagen Sie. Andererseits sind in den letzten Jahren doch immer wieder Ideen über Grenzen gegangen. Sie sind etwa von der Bewegung der Indignados in Spanien zu Occupy Wall Street und dann nach Europa übergesprungen …
… sogar bis nach Zürich.

…oder vom Tahrirplatz zum Taksimplatz. Gibt es so was wie kollektive transnationale Lernprozesse?
Auf alle Fälle gibt es globale Konjunkturen von Protestbewegungen und Massenmobilisierung. In diesen Momenten findet auch ein den jeweiligen technischen Möglichkeiten angepasster reger globaler Austausch statt. Das Internet hat die Möglichkeiten dazu potenziert. Ob etwas gelernt wird, ist eine andere Frage. Es liegt eher etwas in der Luft. Was bei den Indignados oder bei Occupy in der Luft lag, war eine Stimmung: Die politische Kaste zieht aus der grossen Krise mit ihren ernsthaften Folgen keine Konsequenzen, das muss sich ändern. Die Tatenlosigkeit der Regierungen schuf ein enormes Empörungspotenzial.

Doch die Bewegungen brachen zusammen. Woran liegt das, dass so etwas so schnell kommt und geht?
Soziale Bewegungen können nicht fabriziert werden. Sie kommen überraschend und lassen sich erst im Nachhinein jeweils erklären. Das Wichtigste aber ist: Bewegungen verschwinden nie vollständig, sondern hinterlassen Kerne politisierter Leute, die ein bisschen was gelernt haben und Lust haben weiterzumachen. Logischerweise gehört auch die Kehrseite dazu: Enttäuschung und Demobilisierung.

Gibt es in Westeuropa mehr Kritik als vor fünf Jahren? Die Reputation der Banken ist zwar im Keller, aber wo bleibt die Gegenwehr?
Die herrschende Ideologie hat durchaus Schaden gelitten. Das Vertrauen in die Wirtschaftseliten ist gesunken. Alternative Theorien und Anschauungen haben es aber nicht viel besser. Es gibt zwar heute mehr Leute, die die Glaubenssätze der neoliberalen Ära infrage stellen und entsprechend handeln, aber das macht noch immer einen marginalen Eindruck, es ist nicht im Zentrum angelangt. Auch die Europäische Union ist schwer beschädigt. Hat Europa überhaupt noch einen Sinn? In Ländern wie etwa Frankreich – wo 2005 die Bevölkerung den EU-Verfassungsvertrag ablehnte – gibt es eine linke Strömung mit einer guten artikulierten Kritik und alternativen Vorschlägen zum weiteren Vorgehen in der EU und in der Währungszone. Das könnte noch interessant werden, sollte diese Opposition stärker werden. Eine Folge dieses Protests war auch, dass François Hollande gewählt wurde. Und jetzt ist man perplex, weil der gute Hollande auch nichts anderes macht als das, was die SPD getan hätte, wenn sie gewählt worden wäre.

Warum gibt es in einer Krisensituation wie der jetzigen keine Grundidee, die links und emanzipatorisch ist und die Menschen fasziniert?
In Westeuropa sind die linken Massenparteien heute neoliberalisiert. Sie haben ihr wirtschaftspolitisches Gerüst und ihre Gesamtanschauungen dem vorherrschenden Klima der letzten dreissig Jahre angepasst. Sie waren in einzelnen Ländern sogar federführend bei der Durchsetzung neoliberaler «Reformpolitik». Heute ist in diesen Parteien allen irgendwie bewusst, dass sie in der Klemme stecken. Es ist schwierig, da rauszukommen.

In Lateinamerika hat es hingegen funktioniert. Dort haben die Menschen nach einem Vierteljahrhundert Neoliberalismus die Konsequenzen gezogen. Warum funktionierte das dort – und hier nicht?
In Lateinamerika war die Vergangenheit ein bisschen anders. Die heute tonangebenden Kräfte hatten ihren Ursprung im Kampf gegen rechte Militärdiktaturen. Sie gewannen an Schwung in den fünfzehn Jahren Schuldenkrise, in der die lateinamerikanischen Regierungen alle jene Massnahmen trafen, die jetzt in Europa durchgesetzt werden: Austerität, Lohnkürzungen, Streichung des Sozialstaats. Kurz: Es gab in Lateinamerika eine sehr lange Zeit der Vorbereitung und der Wutaufbereitung, bis die politischen Kräfteverhältnisse kippten. Europa steht hier erst am Anfang.

Im Lauf der letzten Jahrzehnte hat die Zivilgesellschaft an Einfluss gewonnen: Verbände werden auf nationaler wie internationaler Ebene zumindest gehört. Sie selbst engagieren sich auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit. Entsteht da eine neue Gegenmacht?
Heute fällt es keiner Regierung ein, nicht einmal der amerikanischen, Kabinettspolitik zu betreiben, also wichtige Entscheidungen im kleinen Kreis zu besprechen und dann durchs Parlament zu jagen. Es wird heute systematisch mit sehr vielen gesprochen, um eine Entscheidung abzustützen, oft aber auch, um eine Entscheidung technisch sinnvoll vorzubereiten – weil man ja nicht alles weiss. Der Privatsektor, die Wirtschaftsverbände oder die Unternehmen werden seit langem ständig einbezogen. Dass die NGOs heute dazukommen, zeigt, dass man etwas gelernt hat und Zugeständnisse macht. Die Gesellschaft ist komplexer geworden; sie besteht nicht nur aus der Privatwirtschaft und der Politik. Man muss auch ein bisschen auf diese Umweltexperten hören, auf die Entwicklungsleute, auf die Gewerkschaften.

Und wo ist da die Gegenmacht?
Es gibt sie in Teilbereichen. Die Chance der NGOs besteht darin, dass sie nicht mit den bestehenden politischen Formationen identisch sind, sich auf einzelne wichtige Problemfelder konzentrieren und ihre Themen ohne parteipolitischen Ballast transportieren können. Viele Menschen können sich mit Umweltzielen sehr einverstanden erklären, aber sie wollen nicht unbedingt höhere Einkommenssteuern zahlen oder noch mit diesem und jenem einverstanden sein.

Aber die Gefahr ist gross, dass die Bewegungen sich vereinnahmen lassen.
Das ist möglich. Auf internationaler Ebene ist der Beizug von NGOs am beliebtesten, weil auf internationaler Ebene Entscheidungen zwischen Regierungen getroffen werden – ohne Checks and Balances, also ohne die gegenseitige Kontrolle der legislativen und exekutiven Gewalten. Wenn NGOs beigezogen werden, können die Regierungen hinterher sagen, dass sie die Zivilgesellschaft in den Entscheidungsprozess einbezogen hätten und damit ihre Entscheidungen sozusagen demokratisch legitimiert wären.

Inzwischen klaffen privater Reichtum und zunehmende Armut immer weiter auseinander. Wann ist der Punkt erreicht, dass das Wehklagen darüber in Widerstand umschlägt?
Ungleichheit ist eines der Hauptmotive der Bewegungen in Portugal, Spanien, Griechenland und Italien. Einige Regierungen fühlen sich durchaus alarmiert. Aber im Moment kommen viele Probleme in einem grossen Cocktail zusammen.

Und woraus besteht dieser Cocktail? Gehört dazu auch die Klimakrise? Und lässt die Vielfalt an Problemen die Menschen nicht verzagen?
So ist die Weltlage. Wenn wir die Klimakrise nehmen: Das Staatensystem ist im Moment nicht fähig, sich auf etwas zu einigen, das die Emissionen wirksam reduzieren würde. Also geht alles so weiter wie bisher. 2015 ist zwar eine Klimakonferenz vorgesehen, die ein verbindliches Abkommen hervorbringen soll. Aber vorderhand sieht es nicht danach aus, als käme eine Einigung zustande. Dann die Wirtschaftskrise: Sie ist noch lange nicht bewältigt. Das neoliberale Regulationsregime hat die Weltwirtschaft 2008 an die Wand gefahren, ein neues gibt es noch nicht, weitere Krisen werden deshalb folgen. Das kann durchaus lähmend wirken. Im Moment befinden wir uns in einer langen Übergangsphase. Die Verantwortlichen für die Krisen, in denen wir stecken, besetzen immer noch die Schaltstellen und beherrschen den gesellschaftlichen Diskurs. Dabei wissen sie keine Lösung für die offensichtlichen wirtschaftlichen Probleme und können ihr auf Kredit gebautes Akkumulationsmodell nicht stabilisieren. Ich sehe allerdings auch die Gegenkräfte nicht, die jetzt eine Chance hätten und bestimmen könnten, welche Korrekturen anzubringen wären.

Und was wären Ihre Grundgedanken für diese Gegenkräfte?
Es gibt drei Stossrichtungen, die international diskutiert werden. Erstens neue Handels- und Finanzverkehrsregeln, die den einzelnen Ländern mehr wirtschafts- und sozialpolitischen Spielraum verschaffen; die Anbindung der Löhne an den Produktivitätsfortschritt in den ärmeren Ländern und Arbeitszeitverkürzungen in den reichen; die Umrüstung des Finanzwesens in eine öffentliche Dienstleistung für die sogenannte Realwirtschaft. Zweitens das Ende der Abhängigkeit der Weltwirtschaft von fossilen Brennstoffen und eine ökologische Konversion der bestehenden Produktionsweise. Drittens ein internationaler Lastenausgleich zur Finanzierung der Anpassung an den Klimawandel und zur Beseitigung bitterer Armut. Wenn ich genau wüsste, wie ich das in ein zündendes politisches Programm umsetzen könnte, würde ich vielleicht nochmals in die Politik gehen.

Gibt es Zentren, die mächtig und nachdenklich genug sind, um einen Wandel voranzutreiben?
Es gibt überall Ideen und Institutionen, in denen sich Leute entlang der genannten drei Stossrichtungen engagieren. Das sind NGOs und Thinktanks in westlichen Ländern. Dazu kommen sehr viele Gruppierungen in Asien, Afrika, Lateinamerika. Aber ein Zentrum existiert nicht.

Das heisst, wir müssen gar nicht nach der Lokomotive für einen Wandel suchen.
Wir müssen in jedem Land Lokomotive werden. Es ist nicht so, dass zuerst eine grosse internationale Kraft entstehen würde. Zu einer internationalen Kraft entwickelt sich nur, was lokal und regional verankert ist. Könnten sich politische Kräfte und Bewegungen entlang der genannten drei Stossrichtungen entwickeln, hätten wir die Kraft, aus der Krise herauszukommen und ein neues sozialeres und ökologischeres Regulationsregime des Kapitalismus durchzusetzen.
Es ist aber auch ein negatives Szenario denkbar: Anstelle einer globalisierten, durch ein imperiales US-Amerika zusammengehaltenen Welt könnten regionale Machtblöcke entstehen, die sich den Zugang zu natürlichen Ressourcen machtpolitisch sichern und den Weltmarkt in regionale Dominien aufteilen. Regionale Machtblöcke um China oder Lateinamerika spielen schon heute eine gewichtigere weltpolitische Rolle als bisher. In Asien und anderen ehemals kolonisierten Kontinenten besteht die durchaus berechtigte und legitimierte Hoffnung, in diesem Jahrhundert 500 Jahre westlicher Vorherrschaft brechen zu können. Fragt sich nur, wie. Die Machtzentren der westlichen Länder verfolgen demgegenüber parallel zwei Strategien: Sie versuchen, die aufstrebenden Mächte in die bestehenden internationalen Institutionen und Abmachungen einzubinden und ihren Machtanspruch zu entschärfen. Gleichzeitig bereiten sie sich auf die mögliche Konfrontation vor.

Das klingt jetzt aber düster …
Im Gegenteil. Es sollte uns Ansporn sein, unsere Grundanliegen mit grossem Engagement voranzutreiben.

PETER NIGGLI
Revolutionär, Journalist, Entwicklungsexperte

Peter Niggli (63) kann auf einen vielfältigen politischen und beruflichen Werdegang zurückblicken. Der Geschäftsleiter von Alliance Sud – der entwicklungspolitischen Lobbyorganisation der Arbeitsgemeinschaft von Swissaid, Fastenopfer, Brot für alle, Helvetas, Caritas und Heks – war im Gefolge der 1968er-Bewegung inoffizieller Chef der Revolutionären Aufbauorganisation Zürich (RAZ). 1976 kam es zum «rechtzeitigen Selbstbegräbnis der Gruppe aus offensichtlichen Gründen», wie er sagt. Es folgten eine «lange politische Abstinenz und eine intensive gedankliche Verarbeitung» der kommunistisch- sozialistischen Erfahrungen. Gleichzeitig studierte er – als Redaktor, Setzer und Drucker der Zürcher Alternativunternehmen «focus» und Ropress – die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Von 1982 bis 1990 und Ende der neunziger Jahre arbeitete Niggli als freier Journalist (Schwerpunkte: Entwicklungsfragen, Weltwirtschaft, Afrika), ausserdem sass er von 1990 bis 1996 für die Grünen im Gemeinderat der Stadt Zürich. Anschliessend war er zwei Jahre lang Präsident des Stiftungsrats von Greenpeace Schweiz. Seine Stelle bei Alliance Sud hat er seit 1998. Zuletzt erschienen von Niggli in Buchform: «Der Streit um die Entwicklungshilfe. Mehr tun – aber das Richtige!» (Rotpunktverlag, 2008), «Nach der Globalisierung. Entwicklungshilfe im 21. Jahrhundert » (Rotpunktverlag, 2004), «Rechte Seilschaften. Wie die ‹unheimlichen Patrioten› den Zusammenbruch des Kommunismus meisterten» (zusammen mit Jürg Frischknecht, Rotpunktverlag, 1998).
PIT WUHRER