WOZ-Gesprächsserie: WEITER DENKEN, ANDERS HANDELN. Teil 6, erschienen am 12.06.2014

Wenn früher ein König enthauptet wurde, war das Machtsystem kopflos, sagt der Bewegungsforscher Dieter Rucht. Das ist heute nicht mehr so einfach. Und doch gibt es Faktoren, die das Entstehen von Bewegungen begünstigen.

Von Wolfgang Storz und Pit Wuhrer

WOZ: Herr Rucht, Sie untersuchen als Wissenschaftler seit vielen Jahren soziale Bewegungen. Wenn Sie auf Deutschland schauen, dann sehen Sie doch einen politischen Friedhof, oder?

Dieter Bucht: Eindeutig nein. Das ist kein Friedhof; es tut sich einiges. Aber vieles wird in den Massenmedien und der breiteren Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Ihre Frage ist ein gutes Beispiel dafür.

Was tut sich denn?
Es gibt beispielsweise in einem bemerkenswerten Umfang Proteste und Aktionen gegen rechtsradikale Bewegungen. Wenn diese gegen Flüchtlinge vorgehen, stellen sich verlässlich Initiativen an die Seite der Flüchtlinge und Migranten. In Zahlen kann ich das nur grob schätzen. Aber es sind jeweils fünf- bis zehnmal mehr, die gegen die Rechtsradikalen demonstrieren als für sie.

Vergleichbar ist es beim Thema Energie: Gegen Atomkraft und für die Energiewende sind unverändert Hunderttausende aktiv; Millionen Bürger fühlen sich angesprochen und sympathisieren mit diesen Bestrebungen. Da macht sich bemerkbar, dass diese Gesellschaft um die Frage der Nutzung der Atomkraft über Jahrzehnte einen Konflikt ausgetragen hat, in dem sich viele positioniert haben.

Warum ignorieren die Massenmedien solche Aktionen weitgehend?
Zunächst einmal: Eine Rolle spielen diese Themen schon. Von Ignorieren kann keine Rede sein. Aber die Medien gehen sehr selektiv vor, sie picken sich das heraus, was neu, gross, spektakulär, originell oder mit Gewalt verbunden ist. Das liegt an den Mechanismen ihrer Nachrichtenauswahl. Und dabei fällt eben fast alles andere unter den Tisch.

Und das gilt für das Thema Rechtsextremismus wie für die Energiewende?
Das gilt für alle Themen. Denn die Massenmedien selektieren überall und fast immer nach denselben Kriterien. Beispiel Berlin: Es gibt in Berlin jedes Jahr etwa 4000 behördlich angemeldete Kundgebungen und Aufmärsche. Die Berliner Medien berichten über etwa ein Viertel bis ein Drittel dieser Ereignisse. Nur drei bis fünf Prozent dieser etwa 4000 Aktionen werden in irgendeiner Form auch in überregionalen Medien wahrgenommen.

Beim Rechtsradikalismus und dem Schutz von Flüchtlingen und Ausländern ist die deutsche Zivilgesellschaft also wachsam, aktiv und wehrhaft?
Ja, für dieses Thema können wir das feststellen. Es sind zwar oft wenige Aktive, die sich intensiv und auf Dauer damit beschäftigen – sie nehmen sozusagen die Position der Stallwache ein. Aber wenn etwas passiert, dann sind sie in der Lage, recht schnell Leute zu mobilisieren.

Ich will aber noch einmal auf die Medien zurückkommen. Einerseits berichten sie nur über einen kleinen Teil der Aktivitäten, weil sie sagen: «Das ist doch nichts Neues oder völlig belanglos.» Wenn also wenige Leute über Jahre eine aktive und wirksame Arbeit gegen rechts leisten, wird dieses Engagement für die Medien immer wertloser und verdient keine Aufmerksamkeit. Andererseits überschätzen und vergrössern die Medien neue oder spektakuläre Bewegungen oder Aktionsformen.

Ein Beispiel?
Occupy. Da gab es am Anfang eine sehr breite, intensive und wohlwollende Berichterstattung nach dem Motto «Toll, was diese jungen Leute da auf die Beine stellen!». Dann nahm der Reiz der öffentlichen Camps und der Konflikte um sie ab, die Berichterstattung versandete. Es wurde erkennbar: Da ist nicht mehr viel, da war letztlich auch nicht so viel gewesen.

Ein Beispiel für eine systematische Ausblendung ist hingegen das Thema Hartz IV. Seit 2004 finden in einigen Städten Hartz-­IV­-Montagsdemonstrationen statt. Die sind zwar seit Jahren sehr klein, manchmal nur ein oder mehrere Dutzend Demonstranten, aber immerhin. Das ist in den Medien nicht präsent, das interessiert nicht mehr.

Bleiben wir bei Occupy. Ein griffiger Slogan – «Wir sind die 99 Prozent» –, das aktuelle Desaster auf den Finanzmärkten, die ständig tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich – warum wurde aus Occupy keine breite Bewegung, die Bestand hatte?
Der Slogan war griffig, hatte aber mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Klar, wenn wir nur auf die Verteilung der Reichtümer schauen, gibt es das eine Prozent, das den grössten Teil des Kuchens an sich rafft. Bei genauerer Betrachtung stellen wir aber fest, dass unter den 99 Prozent zu unterschiedliche Interessen vertreten sind, als dass aus ihnen eine Massenbewegung hätte werden können. Da gibt es Studierende, die an ihren beruflichen Erfolg glauben, Rentner mit verlässlichem Einkommen, gut versorgte Beamte, überdurchschnittlich bezahlte Facharbeiter – die stehen nicht unbedingt mit den Bedrohten und Prekarisierten zusammen. Sie sehen zu grossen Teilen auch keinen Grund, gegen Verhältnisse vorzugehen, die ihnen einen privilegierten Status sichern.

War es ein Problem von Occupy, kein Feindbild zu haben, gegen das mobilisiert werden konnte? Wer kennt schon «die Finanzmärkte»?
Das ist ein richtiger und wichtiger Punkt. Er ist jedoch nicht nur das Problem von Occupy. Die Welt der Handels­ und Finanzmärkte, auch politische Verflechtungen etwa innerhalb der EU – all dies ist fragmentiert und undurchschaubar, da es zahllose Akteure gibt, zu denen auch die Verbraucher, die Sparer und die Kleinaktionäre gehören. Zugleich ahnt man: Da tummeln sich auch mächtige Spieler, die zudem miteinander verflochten sind. Aber was sie genau tun, wie sie nun verflochten sind und wie sie ihre Interessen durchsetzen, weiss man nicht so genau. Dann entsteht der Eindruck, dass man überall und damit ebenso nirgends ansetzen kann. Das macht hilflos. Wir haben nicht mehr wie in absolutistischen Staaten einen König an der Spitze der Hierarchie; wurde er enthauptet, dann war – so zumindest der Eindruck – das herrschende Machtsystem kopflos. Wie aber sollte man Märkte enthaupten?

Einspruch. Man könnte doch problemlos die Deutsche Bank mit Anshu Jain an der Spitze zum entscheidenden Bösewicht machen, den es zur Strecke zu bringen gilt. Oder man spiesst Goldman Sachs als weltweite Krake im Dienst der Reichen auf.
Richtig. Partiell funktioniert das ja auch. Denken Sie nur an die Steuerhinterziehung von Reichen: Das wird dann zu einem grossen Thema, wenn es sich anhand einzelner Prominenter wie dem ehemaligen Postmanager Klaus Zumwinkel oder Fussballmanager Uli Hoeneß greifbar machen lässt. Oder: Es gab und gibt immer wieder Kampagnen gegen bestimmte Firmen, etwa gegen den Sportartikelhersteller Nike wegen der Arbeitsbedingungen bei den Zulieferern oder gegen Nestlé wegen der trickreichen Vermarktung industriell gefertigter Babynahrung in der Dritten Welt. Einzelne Konzerne werden dann stellvertretend für eine Branche angegriffen. Das funktioniert gelegentlich und zeitlich begrenzt. Das sind aber weitgehend symbolische Handlungen, die das Ganze, das System, nicht treffen. Und weil das System diese Angriffe auf einzelne seiner Elemente ausgleichen oder abfedern kann, verändert sich am Ende nichts.

Unter welchen Voraussetzungen können Bewegungen etwas ändern?
Mir ist folgende Vorbemerkung wichtig: Ich kann zwar allgemeine Weisheiten postulieren, aber jeder Fall hat seine Besonderheiten. Es gibt kein wissenschaftlich fundiertes Erfolgsrezept, das man Bewegungsaktivisten auf den Weg geben könnte. Das vorausgesetzt, komme ich auf die Frage zurück. Es muss ein reales Problem geben, das viele Menschen als solches empfinden, ein Unrecht oder einen Missstand. Und für dieses Problem müssen Verursacher als verantwortlich benannt werden können. Das ist der unabdingbare Rohstoff. Wenn ich dagegen als Arbeitsloser denke: «Das ist eben Schicksal oder gar meine eigene Schuld», dann wird daraus nichts.

Dies ist übrigens auch eine gesicherte Erkenntnis: Jene, die am meisten leiden, stehen bei den Protesten fast nie ganz vorne. Das führt zu einem weiteren Punkt: Es bedarf des Gefühls, dass es einem persönlich künftig schlechter gehen wird oder dass man, obgleich objektiv nicht so schlecht gestellt, im Vergleich zu anderen benachteiligt wird. Es protestieren also eher jene, die etwas zu verlieren haben oder etwas als ungerecht erleben. Als weitere Voraussetzung kommt hinzu: Die Menschen müssen sich in sozialen Netzen bewegen, sich kennen, treffen, austauschen. Sie müssen erfahren, dass sie mit ihrem Problem nicht allein dastehen.

Der direkte persönliche Kontakt ist auch in der Welt der sogenannten sozialen Netze und des Internets entscheidend?
Eindeutig ja. Ideal ist, wenn sich die potenziell Aktiven häufig und regelmässig treffen: in Fabriken, Universitäten, Volkshochschulen, Kneipen, also an Orten, wo Erfahrungsaustausch und Kritik möglich ist. Dann bedarf es zusätzlich der Organisatoren. Es müssen Leute da sein, die etwas in die Hand nehmen, einen Aufruf starten, sich um die Logistik kümmern. Wer nur jammert, der agiert nicht. Zudem müssen sich die Leute in wesentlichen Fragen einig werden, zumindest sich einig wähnen. Was ist das Problem? Wer ist der Schuldige? Was können wir tun? Haben wir überhaupt Chancen auf Abhilfe?

Von Vorteil ist zudem ein politisches «window of opportunity», also eine günstige Gelegenheit, beispielsweise ein Wahlkampf mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für das jeweilige Thema oder eine anstehende oder gerade getroffene politische Entscheidung. Ein letzter wichtiger Faktor: Ein möglicherweise zufälliges Ereignis, ein Polizeiübergriff, der Tod eines Demonstranten, ein Skandal – dadurch werden Mobilisierungsprozesse ausgelöst oder beschleunigt. Denken Sie an die AKW­-Katastrophe in Japan oder an den brutalen Polizeieinsatz gegen die Baumschützer im Zusammenhang mit dem Stuttgart­21­Bahnprojekt. Das alles sind Faktoren, die für das Gelingen oder Misslingen von Bewegungen ausschlaggebend sind – Faktoren, die übrigens in allen Ländern und bei allen Themen gelten.

Ob Finanzmärkte, Reichtum, Flüchtlinge, Rechtsradikale, Stuttgart 21 oder Energiewende – wann ist eine Bewegung für einen Bewegungsforscher eine gute, wann eine schlechte Bewegung? In Hamburg gab es vor zwei, drei Jahren eine klassische Mittelschichtbewegung, der es via Bürgerbegehren gelang, eine Schulreform, die mehr Gleichberechtigung und mehr Hilfe für sozial schlechter gestellte Kinder zum Ziel hatte, zu Fall zu bringen.
«Gut oder schlecht» ist keine wissenschaftliche, sondern eine politische Frage. Aber die Wissenschaft kann analysieren: Verfolgt die Bewegung nur egoistische Ziele? Beispiel: Eine Bürgerinitiative wendet sich gegen eine Müllverbrennungsanlage in ihrem Viertel. Wenn sie lediglich das Problem woandershin verlagert wissen möchte, kann das schon als egoistisch gelten. Aber es gibt auch Leute, die sich Gedanken machen, wie die Müllberge zu reduzieren sind und an welchem Standort eine Verbrennungsanlage die geringsten Belastungen mit sich bringt.

Und es gibt Leute, die aus ihrem Protest keinen Vorteil ziehen können und wollen. Beispiel: Westliche Aktivisten versuchen, einem Indianerstamm, dessen Gebiet durch die Ölförderung verwüstet wurde, zu einer Entschädigung durch den verursachenden Ölkonzern zu verhelfen. Viele Leute sind anwaltschaftlich und unbezahlt für andere aktiv, investieren dafür Zeit und Geld. Sicherlich haben sie als Lohn eine innere Befriedigung, finden vielleicht auch soziale Anerkennung. Aber sie sind keine Egoisten, sondern wollen Schwächeren helfen.

Welche Art von Bewegungen nimmt zu: die egoistischen oder die nicht egoistischen?
Zahlen dazu gibt es nicht. Mein Eindruck ist, dass weder in die eine noch in die andere Richtung nennenswerte Entwicklungen stattfinden. Man muss berücksichtigen, dass Bewegungen in Zyklen verlaufen. Es gibt einige Wissenschaftler, denen zufolge die Zyklen der Bewegungen mit den grossen ökonomischen Zyklen zusammenhängen. Feststellbar sind Phasen von Aufbruch und Euphorie, gefolgt von Phasen der Defensive, der Ernüchterung, vielleicht auch des Rückzugs in das Private.

In welcher Phase sind wir jetzt?
In Deutschland gab es in den letzten Jahren eine Phase des Aufbruchs. Beflügelt vom Protest gegen Stuttgart 21, haben andere Initiativen sich dies zum Vorbild genommen. Diese Phase klingt jetzt ab. Ich habe keine aktuellen Zahlen, aber Eindrücke. Das «Protestvolumen», also eine Kombination von Anzahl der Proteste und Anzahl der Protestteilnehmer, war ab 2000 rückläufig. Dann gab es vermutlich von etwa 2009 bis 2012 eine Zunahme. Derzeit sind wir wohl in einer Phase des Abschwungs, wenngleich auf noch relativ hohem Niveau.

Was sind die Gründe für diese Konjunkturen?
Manchmal hängt eine solche Konjunktur an einem konkreten politischen Vorhaben. Denken Sie an die Welle der Friedensbewegung in Reaktion auf den Nato-Doppelbeschluss oder die Welle der Antiatomkraftbewegung in den siebziger und frühen achtziger Jahren in Deutschland, als der Bau weiterer atomarer Anlagen anstand. Proteste können auch zunehmen, wenn – wie im Fall vieler Ostblockländer in den achtziger Jahren und der Proteste in Nordafrika seit 2011 – politische Systeme insgesamt instabil werden, an Rückhalt verlieren und/oder Repressionsversuche nicht mehr abschrecken, sondern vielmehr weiteren Protest anheizen.

Derzeit verhandeln die EU und die USA das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP, das Rechte und Schutzbestimmungen aushebeln soll. Taugt TTIP für eine erfolgreiche Gegenkampagne, oder ist das Thema zu komplex?
Es ist ein schwer durchschaubares Thema. Welche Rechte haben Konzerne gegenüber Staaten? Welche Produkte dürfen aufgrund welcher Standards angeboten werden? Wer ist Richter? Der Normalbürger mag erst einmal denken, das habe mit seinem Alltag nichts zu tun. Zudem wird geheim verhandelt. Auch sind die vorhandenen Informationen widersprüchlich. Wem soll ich also glauben? Das erschwert das Entstehen einer starken Bewegung gegen TTIP.

Andererseits gibt es eine Vorgeschichte, aus der Lehren gezogen werden können: Mit dem Multilateralen Investitionsabkommen (MAI) sollten Investitionen von Konzernen erleichtert werden.
Dagegen gab es politischen Widerstand. Das ebenfalls geheim verhandelte Abkommen scheiterte 1998 – und zwar nicht primär am ausserparlamentarischen Widerstand, sondern am Nein der französischen Regierung. Diese Auseinandersetzung ist im Gedächtnis der Bewegungen als Erfolg verbucht worden. Dann gab es die Auseinandersetzung um Acta, also um die Frage, wie das Urheberrecht im digitalen Zeitalter beschaffen sein soll. Etwas platt gesagt: Gehören geistige Güter den Konzernen oder der Allgemeinheit? Auch da gab es einen Erfolg der Kritiker und Gegner von Acta.

Weiterhin haben sich im vergangenen Jahr mehr als 1,5 Millionen EU­-Bürger gegen eine weitere Privatisierung des öffentliches Guts Wasser ausgesprochen. Es gibt also eine Vorgeschichte an Aktionen, die sich um die entscheidende Frage drehen: Was darf wenigen gehören, und was muss allen gehören? Müssen nicht solche Verhandlungsprozesse transparent sein? Müssen nicht Parlamente von Anfang an beteiligt werden? Inzwischen sind viele Menschen sensibilisiert für Fragen des freien Handels, seiner Vor­ und Nachteile, für die Ungleichgewichte, die er mit sich bringt. Daran können diejenigen anknüpfen, die ausserparlamentarisch gegen das TTIP-­Projekt vorgehen. Die Protestwelle rollt gerade an.

Bewegungen haben also ein Gedächtnis, das abrufbar ist?
Ich denke schon, auch wenn nicht alle Aktivisten um die Vorgeschichte wissen. Wird heute über die Vorzüge des Freihandels gesprochen, glaubt inzwischen die Mehrheit, dass es bei dieser Art von Liberalisierung wenige Gewinner, aber viele Verlierer geben wird. Das zeigt auch, wie wichtig es ist, dass Bewegungen ihr kollektives Gedächtnis, ihre mentalen und physischen Archive pflegen. Dann können auch die jüngeren Aktivisten wissen, wo und warum Bewegungen erfolgreich waren, wo und warum sie gescheitert sind. Nicht jede Bewegung muss bei null beginnen und das Rad neu erfinden. Das kostet zu viel Zeit, wäre eine Vergeudung von Energien.

Welche Rolle spielt dabei das Internet? Immerhin wird auf dem Netz gross gegen das TTIP-Abkommen mobilisiert.
Das Internet ist ein geniales Werkzeug, um Informationen schnell zu gewinnen und diese mit potenziell grosser Reichweite und hoher Geschwindigkeit zu verbreiten. In dieser Hinsicht ist es unschlagbar. Es birgt jedoch die Gefahr, dass es Leute animiert, sich mit Netzaktivitäten zufriedenzugeben. Ich klicke, also bin ich Protestierer. Das ist eine Soft­ und Sofavariante des politischen Protests, der sogenannte «slacktivism».

Aktivisten diskutieren bereits darüber, ob die digitalen Möglichkeiten nicht den sonstigen politischen Aktivismus gefährden. Es ist vergleichsweise leicht, via Netz viele Unterstützer zu mobilisieren. Die Onlineplattform Campact schafft es als permanente digitale Bürgerbewegung manchmal innerhalb einer Woche, 300 000 Unterschriften zu sammeln. Aber wohin führt das? Es zählen dann nur noch die Spitzenwerte. Wird der zuvor erreichte Spitzenwert bei der nächsten Aktion unterschritten, dann heisst es: Na ja, das ist aber wenig.

Daraus folgt ein Zwang, sich selbst und die Konkurrenten ständig zu überbieten. Der allein auf Quantität setzende Aktivismus droht sich selbst zu entwerten. Es ist wie in einer vollen Kneipe, wo alle immer lauter reden, um noch gehört zu werden. Das Ergebnis ist ein starkes Rauschen. Und am Ende unterscheiden sich die digitalen Unterschriftensammlungen kaum mehr von einer fortlaufenden Meinungsbefragung. Es ist wichtig, solche digitalen Aktionen als Begleitung und Unterstützung der konventionellen Aktivitäten zu verstehen. Aber sie sind kein Ersatz für die direkte Kommunikation vor Ort und für Strassenprotest. Das Netz ist kein gutes Instrument der Überzeugungsarbeit und politischen Bewusstseinsbildung.

Warum?
Wie schon gesagt: Mit dem Netz kann ich umfassend und komfortabel Informationen gewinnen und verbreiten. Mit Überzeugungs-­ und Deutungsarbeit, dem Austausch von Argumenten und politischer Bewusstseinsbildung hat es jedoch wenig zu tun. Es ist kein Ort für nennenswerte politische Debatten, abgesehen von einem zumeist kleinen Kreis interessierter Spezialisten, die dann via Netz konferieren. Das Netz ist auch kein Ort, an dem wechselseitiges Vertrauen aufgebaut wird, wie es etwa für Aktionen des zivilen Ungehorsams notwendig ist.