WOZ-Gesprächsserie: WEITER DENKEN, ANDERS HANDELN. Teil 3, erschienen am 12.09.2013

Widerstand ist nicht an sich gut, sagt Soziologin Frigga Haug, er muss schon eine Perspektive haben. Und eine Bewegung entsteht nicht nur durch rationales Denken. Aber wenn sie mal da ist, ist vieles möglich.

Von Wolfgang Storz und Pit Wuhrer

WOZ: Frau Haug, selbstbewusste und widerständige Bürgerinnen und Bürger gehören selbstverständlich zur Demokratie. Wo ist heute eine solche Haltung zu lernen?
Frigga Haug:
Sie legen nahe, Widerstand sei etwas Gutes an sich. Das muss nicht so sein. Es gibt eine lehrreiche Studie des britischen Soziologen Paul Willis mit dem Titel «Spass am Widerstand», sie wurde gerade in neuer Übersetzung aufgelegt. Hauptfrage dort ist, warum Kinder von Hilfsarbeitern Hilfsarbeiter werden, da wir doch wissen, dass Begabung nicht angeboren ist und die Schulen zumindest bis zu einem gewissen Grad ein egalitäres Lernumfeld schaffen. Und diese bahnbrechende Studie kommt zum Ergebnis: Das machen diese Jugendlichen selbst. Sie wissen sozusagen, wenn auch nicht wirklich bewusst, dass über ihrer Schule die grosse Lüge geschrieben steht, mit Bildung kämen alle von unten nach oben. Und das glauben sie nicht. Deshalb machen sie sich einen Spass aus der Schule und drehen alles um: Sie lernen nicht, sie unterhalten sich während des Unterrichts, kommen meist zu spät, verlassen den Klassenraum und so weiter. Kurz: Sie inszenieren eine Antischule in der Schule mit eigenem Zeitregime und eigener Ordnung. Doch nun kommt es: Wenn die Schule beendet ist, haben diese Jungs natürlich keine Chance, eine gute Stelle oder Ausbildung zu erhalten, sondern nur die letzten Hilfsarbeiterjobs. Zudem gehören zu ihrem Spass auch noch Frauenverachtung und Ausländerhass. Gegen die in Ihrer Frage durchscheinende Positivität von Widerstand ziehe ich aus dieser Studie unter anderem den Schluss: Es gibt Formen von Widerstand, die zu einer Selbstschädigung der Individuen führen. Wir sollten also fragen: Widerstand gegen was, mit wem und wofür? Widerstand bedarf einer Perspektive, eines Wohin, und er bedarf mehr als eines Individuums, wie Sie das in Ihrer Frage auch angedeutet haben. Widerstand kann nur als kollektive Handlung sinnvoll gedacht werden. Das Bild des widerständigen Einzelnen mit dem aufrechten Gang als Tugend, das ist doch nicht zu Ende gedacht.

Wo wäre denn ein Ort, wo sich kollektiver Widerstand mit Perspektive entwickeln kann?
Es gibt keine institutionalisierten Lernorte für Widerstand. Diesen lernen Menschen, indem sie sich in Bewegungen begeben. Das sind die einzigen Orte, in denen sich Widerstand entwickeln kann. Rosa Luxemburg hat über den sogenannten gewöhnlichen Gewerkschafter gesagt: Mit ihm wird man nie eine radikale Gesellschaftsveränderung hinkriegen, denn das ist einer, der schon bei der 1.-Mai-Veranstaltung fragt, ob er die Zeit ersetzt und als Überstunden anerkannt bekommt. Und der fragt, wer für den eventuellen Schaden haftet. Aber, so fährt sie fort, wenn eine Bewegung begonnen habe und er sich in ihr engagiere, dann werde man sehen, dass aus dem fürsorglichen Familienvater, der nichts anderes kenne als sein privates Heim, plötzlich ein glühender Veränderer der Gesellschaft geworden sei. Das heisst, die eigentliche Veränderung kommt beim Verändern.

Welche Bedingungen fördern solche Prozesse der Veränderung?
Diese Frage finde ich lustig, weil sie eine Warum-Frage ist, die gewissermassen nach dem Urgrund von Bewegung fragt, wohl in der Absicht, Bewegung zu erzeugen: Gibt es einen Grund, warum eine solche Bewegung, ein solches Veränderungswollen entsteht, warum sich Menschen wie in Stuttgart oder bei Occupy zusammenschliessen und sich wehren und ihre Empörung ausdrücken?

Aber man überlegt doch: Warum gibt es die Bewegung Stuttgart 21, also eine Bewegung gegen den Abriss eines Sackbahnhofs, und warum gibt es keine Bewegung, die sich mit derselben Energie in Deutschland gegen die sozialen Klüfte, gegen die masslose Vermehrung von Armut und von Reichtum wendet? Das muss doch einen Grund haben.
Ich stelle mir jetzt gerade vor, wir analysieren das, finden heraus, wie die bisherigen grossen Bewegungen entstanden sind. Wir erkennen die entscheidenden Mittel, und dann stellen wir die entsprechenden Zünder her. Jetzt, wo es allgemein so wenig Bewegung gibt, da wäre es doch gut, wenn wir zum Beispiel gute Bewegungen für mehr Gerechtigkeit herstellen könnten …

… also quasi mit den Zündern in die Massenproduktion gehen …
Es gibt dann Konstrukteure von neuen Bewegungen, und die Anführer wissen genau, wie sie ihre Reden halten müssen. Ich erzähle Ihnen, wie ich die Frauenbewegung erfahren habe. Mich hat fasziniert, dass diese Bewegung und ihre Forderungen wie ein Lauffeuer eine Gesellschaft nach der anderen erfasste. Deutschland, Westeuropa, die USA, Australien, auch Lateinamerika. Wie kam das? Als diese Bewegung abflaute – sie dauerte ja nur sehr kurz, vielleicht fünf, sechs Jahre lang, von 1969 bis 1975 –, wurde die Frage nach ihrer Entstehung dringlicher. Ich dachte, dass ich als Mitglied der Bewegung über alle wichtigen Daten verfügte und der Zeitraum kurz genug sei, damit ich die Zusammenhänge erforschen könnte. Ich konzentrierte mich zunächst auf den bekannten Auslöser, das war die Abtreibungsfrage. Sie stand in überall im Mittelpunkt, also begann es mit dem Kampf um das Recht auf den eigenen Körper. Meine erste Überlegung war, dass die auf die Religion gestützten Verbote die Bewegung auslösten. Das war ein Irrweg. Die Bewegung ergriff katholische Länder ebenso wie protestantische und solche, in denen die Kirche nur wenig Einfluss hatte. Wie dann?
Ich will hier nicht ausführen, was ich noch alles probierte, und ich weiss noch nicht einmal, wie haltbar und nützlich das Ergebnis ist. Jedenfalls landete ich bei zwei Thesen: Zum einen gibt es nicht einen Grund für eine Bewegung, sondern eine Vielzahl von Gründen, gewissermassen eine Konjunktur, in der viele Fragen sich überschneiden. Zum andern gibt es so etwas wie ein politisches Klima, das für das Entstehen und die Entwicklung von Bewegungen günstig ist. Als die feministische Bewegung aufkam, waren in den meisten Ländern konservative Regierungen schon lange von sozialdemokratischen oder sozialliberalen abgelöst worden. Und diese modernisierten die Gesellschaften auf ihre bestimmte Art: Sie öffnen die Ventile ein wenig, machen ein paar Reformen, dann schliessen sie das Ganze wieder – weiter darf es nicht gehen. Aber diese Reformen bringen Luft zum Atmen. Es gibt also gerade so viel Freiraum, dass viele Menschen überhaupt spüren können, was alles fehlt. Und in einer solchen Phase können radikalere Veränderungen in Gang gesetzt werden.

Es muss also aus dem politischen Raum eine gewisse Ermutigung geben?
Ja, man könnte sagen, dass gerade Sozialdemokraten ideal sind, um widerständige Bewegungen zu befördern, weil Sozialdemokraten nie Gehorsam predigen, sondern Freiheiten gewähren und versprechen, sie wollten ein bisschen was verändern, aber weil sie immer so halbherzig handeln, schüren sie gleichermassen Lust auf Veränderungen und Empörung über ihre Halbherzigkeiten und bringen mit diesem Habitus Bewegungen überhaupt erst in Schwung.

Und wie ist es nun bei Stuttgart 21 und Occupy?
Den Bürgern wird versprochen, dass sie an den Verfahren beteiligt werden. Das ist zwar von den Verwaltungen und parteipolitischen Kräften nie ernst gemeint, aber die Beteiligungsrituale sind da. Und dann, als Teile des Gebäudes abgerissen und Bäume umgesägt wurden, da haben sich die Bürger richtig eingemischt.

Also geht es um sinnliche Erfahrung: Ich muss etwas sehen, etwas wird zerstört oder umgesägt – ist das der Zünder?
Es ist richtig, zum rationalen Denken muss ein weiteres Element hinzukommen. Die Wut steigerte sich ja erst in kollektive Empörung, als diese wunderbaren grossen, lebendigen Bäume mit diesen Kreissägen umgelegt wurden. Gemessen an den Verbrechen in dieser Welt ist das ja ein sehr, sehr kleines Verbrechen. Aber diese Bäume scheinen für viele Menschen ein Symbol zu sein, eine Grenzlinie: Bis hierher und nicht weiter! Das ist in Istanbul mit dem Gezipark und dem Taksimplatz ähnlich, auch da geht es um einen Raum, der erhalten werden soll. Ich denke deshalb, es muss ein konkretes sinnliches und für jeden und jede erfahrbares Element hinzukommen, damit Prozesse von Widerständigem und von Veränderung ausgelöst werden.

Das ist ja auch der Grund, warum es etwa keine richtige Bewegung der Empörung gegen die zunehmende Armut und diesen zunehmend masslosen Reichtum gibt. Das ist ja schon wahnsinnig. Da können viele den Strom nicht bezahlen und rechnen mit jedem Cent, gleichzeitig kann man sich den Reichtum der Milliardäre und der Manager gar nicht mehr vorstellen. Die vierzehn reichsten Männer der Welt, natürlich wieder Männer, haben genügend Geld, um die unterentwickeltsten Länder vom Hunger zu befreien. Da müsste man sich doch sagen, dass es zu schaffen sei, diese vierzehn Männer zu überwältigen und ihnen nicht alles, aber das meiste Geld wegzunehmen, um diesen Ländern zu helfen. Auch Occupy begann ja mit dem Protest gegen Gier und Korruption, verschwand aber weitgehend wieder.

Wenn Bewegungen wie Occupy verschwinden, verschwinden dann auch die Gefühle, Erfahrungen, das Wissen und die Antriebskräfte? Oder werden diese irgendwo aufbewahrt, sodass die nächste Welle stärker ausfällt?
Diese letztlich naive Frage haben wir uns bei der Frauenbewegung auch gestellt. Können wir dieses Wissen, die Kompetenzen und unsere Geschichte bewahren und erzählen, also an jüngere Generationen weitergeben, damit sie auf einem höheren Niveau weitergehen können? Doch damit werden die Medien und grosse Teile der Politik unterschätzt. Die Medien beispielsweise arbeiten mit grosser Lust daran, dass Geschichtsbewusstsein verloren geht. Sie agieren so, als wäre an jedem Tag alles neu, als hätte es zuvor nie etwas gegeben. Es wird nie etwas tradiert. Bei der Frauenbewegung war es so, dass sie versickerte. Aber es ist einiges geblieben: viel Selbstbewusstsein, auch darf frau sagen, dass Hausarbeit Arbeit ist, und es blieb eine Frauenöffentlichkeit. Das heisst, die Frauenbewegung brachte für die Frauen einen Zivilisationsschub. Und auf diesem Fundament leben die jungen Frauen, jedoch ohne das Bewusstsein, dass dies einmal erkämpft werden musste und dass sie selbst dies ja weiter ausbauen und erweitern könnten. Dabei spielten die Medien eine ziemlich verheerende Rolle. Sie schufen das Bild der neuen jungen selbstbewussten Frau, die sexy ist, Lust und Erfolg hat und von diesen alten vergrämten Latzhosenveteraninnen nichts mehr hören will. So gab es anhaltend eine Attacke auf eine Frauenbewegung, die gar nicht mehr da war, nur um die Erinnerung an das zu tilgen, was einmal war.

Was ist für Sie Fortschritt?
Ich messe ihn am Abbau von Herrschaft und an der Möglichkeit, freier zu leben. Und um frei zu leben, brauchen wir vor allem etwas, nach dem Sie noch gar nicht gefragt haben: Wir brauchen die sinnvolle Entwicklung der Produktivkräfte, um die Zeit der Erwerbsarbeit für jeden und jede möglichst stark verkürzen zu können.

Die Produktivkräfte entwickeln sich doch, jedenfalls in Deutschland mit einer der leistungsstärksten Industrien der Welt.
Richtig, wir brauchen deshalb immer weniger lebendige Arbeit. Wir könnten diese Zeit also ganz anders verteilen. Etwa so, dass die Menschen zwar weiter einer Erwerbsarbeit nachgehen, aber eben nur noch wenige Stunden am Tag, vielleicht vier Stunden. Die andere Zeit könnten sie nutzen, um die Natur zu erhalten und um mehr Freundlichkeit in diese Welt zu bringen; um die Arbeit zu Hause und den Erhalt der Wohnlichkeit gemeinsam zu erledigen und dies alles nicht einigen abgearbeiteten Frauen zu überlassen. Aber was geschieht in der Wirklichkeit? Dieses gesellschaftliche System produziert ja nicht, um die Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um mit den Bedürfnissen Profit zu machen. Und deshalb wird die Arbeit nicht gleichmässig verteilt nach dem Prinzip «Viele arbeiten weniger», sondern es werden die Überflüssigen entlassen.

Den Gewerkschaften zufolge lehnen die Beschäftigten Arbeitsverkürzungen ab. Was würden Sie dann tun?
Ich würde die Leute mit Fragen dazu bringen, die Sachen zu durchdenken: Wie soll meine Arbeit in zehn Jahren aussehen? Wie viel Erwerbsarbeit brauche ich? Welche Chancen wünsche ich mir für meine Kinder? Also zum kollektiven Nachdenken anregen. Und sie mit einer konkreten Utopie konfrontieren.

Welcher?
Ich schildere Ihnen mein Projekt. Die entscheidende Frage ist, wie verfüge ich über meine Zeit und wie verteile ich sie. Unter den menschlichen Tätigkeiten gibt es ja nicht nur die Lohnarbeit. Wenn ich mich als Politikerin nur auf die Lohnarbeit konzentriere, dann muss ich zwangsläufig reaktionär werden, weil die Lohnarbeit immer weniger wird und ich damit für immer weniger Menschen Politik mache. Ich muss als ein fernes Ziel auch genügend Zeit erstreiten, um Menschen, die mir nahe sind, zu pflegen, ihnen zu helfen, für sie zu sorgen, aber auch, um allgemein, wie ich es nenne, mehr Freundlichkeit in die Welt zu bringen. Ich sehe doch, wie die Verwahrlosung der Menschen untereinander immer schrecklicher wird. Überall entwickelt sich, was ich die Kultur des «Schnäppchenmenschen» nenne. Neben der Erwerbsarbeit und der fürsorglichen Arbeit gibt es noch einen dritten Bereich: die Entwicklung der schöpferischen und künstlerischen Fähigkeiten, die jeder Mensch besitzt. Zeit aufbringen für etwas, was ich Selbstzweckpraxen nenne, also etwas lernen, etwas tun, was keinen verwertbaren Nutzen als Ziel hat. Und dann brauche ich viertens als Mensch Zeit, um diese Gesellschaft zu gestalten. Es kann ja nicht sein, dass sich nur einige Politiker darum kümmern und wir dann alles ausbaden müssen – nein, darum müssen wir alle uns kümmern. Das ist meine Vier-in-einem-Perspektive.

Und alle, nicht mehr nur die Politikerinnen und Politiker, sollen auch noch Politik machen?
Natürlich. Die Leute stellen sich immer vor, dass Politik aus dem besteht, was sie aus den Parlamenten und von den Parteitagen durch das Fernsehen erfahren. Dann sagen sie bei der Zumutung, selbst politisch tätig zu werden, sofort: «Nein, das kann ich doch gar nicht, vor so vielen Leuten reden.» Und trauen sich nichts zu. Ich sage dann beispielsweise: Wollen Sie, dass diese schönen Bäume umgesägt werden, damit das 18. Parkhaus errichtet werden kann? «Nein, auf gar keinen Fall!», antworten sie und fragen: «Ist es denn Politik, wenn ich dagegen bin? In diesem Fall mache ich das gerne.» Man sieht bei einer solchen Diskussion der Vier-in-einem-Perspektive förmlich, wie die Menschen sich dieses Konzept anziehen wie ein schönes Kleid, es anprobieren, sich aufrichten und anders Platz zu nehmen beginnen.

Ihr Konzept des menschlichen, nicht des materiellen Reichtums kann sich vielleicht ein Chefarzt leisten, der in Teilzeit immer noch 10000 oder 15000 Euro verdient, Zeit zum Cellospielen hat, seine Eltern pflegen kann und für den Gemeinderat kandidiert. Aber was macht eine Verkäuferin, die in Teilzeit vielleicht noch 700 Euro netto im Monat hat? Und hat das in letzter Konsequenz nicht ein bedingungsloses Grundeinkommen in Höhe von 1500 Euro oder 2500 Franken zur Voraussetzung?
Mir passt an dem Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens das Moment der Bedingungslosigkeit nicht. Ich bin dafür, dass die Menschen eine gewisse Zeit für Arbeit zum Wohle aller aufbringen; sie sollen sich einmischen, um diese Gesellschaft zu gestalten. Es darf jedoch nicht alles nur der Lust und Laune jedes Einzelnen überlassen werden. Wie soll das denn dann funktionieren? Aber richtig ist, die sozialen Garantien des Lebens müssen gegeben sein, denn nur dann können sich die Menschen um die Gesellschaft, die Politik und die Menschen fürsorglich kümmern. Das sind ja Pflichten und Verantwortungen. Und nur dann lasst sich von Chancengleichheit für alle sprechen.

Ihr Konzept enthält eine Vision, die jede und jeder auf sich selbst zuschneidern kann. Sie sagten jedoch auch, dass es einer kraftvollen Organisation bedarf, um eine solche Vision durchzusetzen. Gibt es diese Organisation schon?
Ich denke, das geht nur mit dem Erstarken der vielen multizentrischen Projekte und Initiativen, die sich hoffentlich vernetzen, um voneinander zu lernen und sich gegenseitig zu unterstützen. Es gibt überall Versuche, etwas im guten und emanzipatorischen Sinn anders zu tun, meist an den Rändern der bestehenden grossen Organisationen. Ich erzähle Ihnen zu dieser Frage am besten eine Geschichte. Ich habe zusammen mit einer österreichischen Kollegin eine Untersuchung gemacht, an der 500 Schüler aus verschiedenen Schultypen beteiligt waren. Wir haben sie gefragt, was sie von der Zukunft wollen – und stellten überrascht fest, dass diese 500 Jugendlichen keinen Traum hatten, den sie zu verwirklichen gedachten. Sie träumten von einer Art Reiseprospekt: so mit Liegestuhl am Strand, mit Sand und Palmen und einem eisgekühlten Getränk. Am Ende besprach ich dieses Ergebnis in einer Schulklasse. Ich bin enttäuscht von euch, habe ich ihnen gesagt. Warum habt ihr keine Zukunft? Da antworteten sie: Wir sind im Berufsfindungsjahr. Man sagt uns: Ihr müsst ein sehr gutes Zeugnis machen, damit ihr eine Lehrstelle bekommt. Aber wir wissen, dass wir auch mit sehr guten Zeugnissen keine vernünftige Lehrstelle kriegen. Was sollen wir tun?
Dann haben wir uns beraten, die Lage als Widerspruch festgehalten und Wege gesucht, aktiv zu werden. Wir beschlossen, zu den Schulämtern zu gehen und sie öffentlich nach einer Lösung zu fragen, zu Unternehmen zu gehen und sie zu fragen, wie sie den Notstand beheben wollen. Wir malten Plakate und gingen mit unseren Forderungen auf die Strasse. Alle waren begeistert dabei, aber dann musste ich sagen: Macht ihr jetzt weiter, ich muss in die nächste Schule. Sie waren sauer auf mich und fragten: Warum gehst du schon, wo wir gerade erst anfangen? Aber ich konnte ihnen ja keine Lehrstelle beschaffen. Ich konnte ihnen nur helfen zu begreifen, dass sie mitten in Widersprüchen sitzen, dass sie diese auseinandernehmen müssen, um so auf eine andere Ebene zu kommen und diese Widersprüche für sich bewusst und greifbar zu machen. Das haben sie getan, und sie waren dabei alles andere als hoffnungslos. Im Gegenteil: Sie wurden aktiv, aus eigenem Antrieb. Mehr konnte und musste ich für sie nicht tun. Die Widersprüche analysieren und sie zum Tanzen bringen. So geht es.