erschienen in „WOZ” am 04.04.2013
Die Zunahme der sozialen Ungleichheit ist einer der dramatischsten Vorgänge der modernen Zeitgeschichte: Diese These vertritt der Historiker Hans-Ulrich Wehler ebenso überzeugend wie leidenschaftlich.
Hans-Ulrich Wehler:
Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland.
C. H. Beck Verlag
München 2013
Dieses Buch passt vorzüglich in das deutsche Wahlkampfjahr 2013: Soziale Gerechtigkeit werde, so heisst es allerorten, das grosse Thema sein, wenn im September der neue Bundestag gewählt wird. Kein Wunder, dass die grossbürgerliche «Frankfurter Allgemeine Zeitung» über das neue Buch des weithin anerkannten und streitbaren Sozial- und Wirtschaftshistorikers Hans-Ulrich Wehler, «Die neue Umverteilung», ebenso vergrätzt wie verräterisch urteilt, es handle sich um eine «plumpe Wahlkampfhilfe». Das Werk ist durchweg verständlich, flüssig, zugespitzt, ja manchmal auch im Zorn geschrieben, insofern also kein klassisch es Buch eines abwägenden und sich hinter seiner Fachsprache verbarrikadierenden Wissenschaftlers.
Abrechnung
Der immer wieder zu spürende Zorn bezieht sich einerseits auf eine Gruppe von Wissenschaftlern, die seines Erachtens grob fahrlässig handelten, andererseits auf den von ihm konstatierten Sachverhalt selbst. So nutzt Wehler die ersten vierzig Seiten, um sich mit den aus seiner Sicht erkenntnisträchtigen Theorien von Karl Marx, vor allem mit denen Max Webers, aber auch mit denen des Staatsrechtlers Lorenz von Stein zu beschäftigen. Mit deren Ansätzen im Hintergrund rechnet er mit den «namhaften deutschen Soziologen» ab, die in den vergangenen Jahrzehnten «anstelle der harten Barrieren der Sozialen Ungleichheit die bunte Vielfalt der Individualisierung und Pluralisierung» beschworen und leichtfertig «die alldem widersprechenden empirischen Ergebnisse der realistischen Sozialwissenschaftler und Sozialhistoriker» beiseite geschoben und damit die tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland beschönigt hätten.
Diesen Wissenschaftlern und ihren Thesen – Ulrich Beck mit seiner «Risikogesellschaft» zählt er ebenso dazu wie US-Soziologen wie Talcott Parsons und dessen Schüler, natürlich Niklas Luhmann mit seiner Systemtheorie – billigt er einen hohen schädlichen Einfluss auf alle politischen Lager zu: Alle führenden PolitikerInnen seien sich auf Basis «einer denkwürdig bizarren Diskussion unisono darin einig» gewesen, dass es Unterschichten nicht mehr gebe. Diese Soziologen hätten über Jahrzehnte hinweg einen grundlegenden Befund fahrlässig beiseitegeschoben: «Krass ungleiche Einkommen, ungleiche Machtchancen, ungleiche Bildungswege, ungleiche Prestigezuweisungen bleiben weiterhin bestehen und formen die Alltagswelt.»
Neue Eliten
Dem Ansatz von Pierre Bourdieu, der mit seinem ausdifferenzierten Begriff des kulturellen, ökonomischen, sozialen und symbolischen Kapitals materielle Lagen ebenso berücksichtigt wie Habitus, Alter, Geschlecht mit den jeweiligen Wechselwirkungen, billigt Wehler dagegen zu, er sei sehr ertragreich. Entsprechend beschreibt und analysiert Wehler in seinem Buch nicht nur die zunehmende materielle Ungleichheit, sondern auch Ungleichheiten in Schulen, im Alter, beim Heiraten, im Verhältnis der Geschlechter, in Kultur und ethnischer Herkunft, bei den beruflichen Aufstiegschancen, beim Aufbau sozialer Netzwerke, in der Zusammensetzung der politischen, vor allem der wirtschaftlichen Elite. Wehler macht dezidiert auf die neue, sich noch herausbildende Kapital- und Erbengesellschaft aufmerksam und darauf, dass mit Reichtum Macht und mit Armut Ohnmacht verbunden sei – schon Max Weber sah in Klassen «Phänomene der Machtverteilung ». Auch wenn Wehler diese Totalität des Reichtums zeichnet, schimmert sein Zorn durch. Die immer schärfere soziale Ungleichheit belaste nicht nur «enorm» den Sozialstaat, sie verändere auch Einstellungen und Mentalitäten mit tief greifenden Folgen. Es werde über kurz oder lang «die Legitimationsgrundlage des politischen Systems durch wachsende Zweifel in Frage gestellt». Wehler sieht im Ausmass der heute erreichten sozialen Ungleichheit «einen der dramatischsten Vorgänge der modernen Zeitgeschichte». Eine Situation, die seines Erachtens der politischen Klasse «ein exzeptionelles Mass an Lernfähigkeit und Entscheidungskraft» abverlange, wobei ungewiss sei, ob sie dies leisten könne.