WOZ-Gesprächsserie: WEITER DENKEN, ANDERS HANDELN. TEIL 11, erschienen am 02.07.2015

Das orthodox-antikapitalistische Denken nach dem Muster «ihr da oben und wir da unten» sei zu einfach gestrickt, sagt die Marburger Politologin Ingrid Kurz-Scherf. Die Linke müsse vielmehr die Widersprüche herausarbeiten und Gegentendenzen stärken. Denn diese seien ja vorhanden.

WOZ: Frau Kurz-Scherf, Sie haben vor Jahren einmal geschrieben: «Das Volk steht links.» Meinen Sie das wirklich?

Ingrid Kurz-Scherf: Der Anlass des Kommentars war der Wahlsieg von Andrea Ypsilanti 2008 bei der Landtagswahl in Hessen. Die hessische SPD war damals mit einem deutlich links vom Mainstream der SPD profilierten Wahlprogramm für eine «soziale Moderne» angetreten und hatte die Wahl nach einer langen Reihe von Niederlagen der SPD unter Gerhard Schröder, Franz Müntefering und Peer Steinbrück gewonnen. Es war unter anderem auch ein Votum gegen Hartz IV. Mein Eindruck ist, dass viele Leute mit dem explodierenden Reichtum einiger bei gleichzeitig ziemlich beengten Lebensverhältnissen vieler nicht einverstanden sind. Oder auch damit nicht, dass Börsenmakler und Manager unverschämt absahnen und Krankenschwestern mit ein paar Hundert Euro abgespeist werden. Es gibt zweifellos die Tendenz, Ängste und Enttäuschungen mit viel Verachtung versetzt nach unten wegzudrücken, zu denen, denen es noch schlechter geht. Aber diese Tendenz ist auch ein Reflex auf entsprechende Impulse von der Politik. Wenn die Politik Alternativen – etwa im Sinn einer sozialen Moderne – anbieten würde, dann wäre das durchaus mehrheitsfähig.

Warum verschiebt sich dann das politische Spektrum nach rechts? Die Mehrheit liebt Angela Merkel, die Grünen werden bürgerlicher, Rot-Rot-Grün ist mit der heutigen SPD undenkbar …
Ich glaube, es gibt aktuell sehr viele Verschiebungen von links nach rechts, aber auch von rechts nach links und von hier nach dort. Der Erfolg von Angela Merkel basiert doch auch darauf, dass sie ziemlich scham- und skrupellos in linken Gefilden wildert: beispielsweise mit dem Atomausstieg, dem Mindestlohn oder auch in der Auseinandersetzung mit der Ausländerfeindlichkeit.

Es gibt in Deutschland, in der Schweiz und in vielen EU-Staaten eine enorm hohe soziale Ungleichheit – aber keinen Widerstand. Wie passt diese Friedhofsruhe zu Ihrer Einschätzung?
Ihren Befund teile ich ganz und gar nicht. Wo leben Sie denn? Jüngst brannte Frankfurt anlässlich der Einweihung des neuen Gebäudes der Europäischen Zentralbank.

Das passiert einmal in zehn Jahren.
Na ja, das sind ja schon lebendige Bewegungen, nicht nur hier, sondern in vielen Ländern. Es gibt eine neue griechische Regierung, die sich selbst als linksradikal bezeichnet; es gibt Podemos in Spanien. Wo finden Sie Ihre Friedhofsruhe? Die gibt es nicht einmal in Deutschland. Wir hatten gerade die Pegida-Bewegung mit Zehntausenden, die meinten, gegen Überfremdung auf die Strasse gehen zu müssen. Aber es gab eine viel stärkere Bewegung gegen Pegida und für Toleranz und Hilfsbereitschaft insbesondere gegenüber Flüchtlingen. Wir haben Streiks der Lokführer, der Piloten, der Lehrer, bei Amazon, in den Kindertagesstätten. Wir leben nicht in Hochzeiten sozialer Bewegung und politischen Engagements. Ich sehe aber auch keine Friedhofsruhe. Ich stelle allerdings eine weitverbreitete und tiefe Verunsicherung bei vielen Menschen fest, die auch lähmt, besonders die Linke.

Welche Verunsicherung ist das?
Der Niedergang des real existierenden Sozialismus hat meines Erachtens einen Schock ausgelöst, der bis heute noch nicht überwunden ist, allenfalls mehr oder weniger gut verdrängt wurde. Es gab viele Linke, die lehnten das eine wie das andere Modell ab; sie plädierten für einen freiheitlichen, demokratischen, emanzipatorischen und feministisch inspirierten Sozialismus. Inhaltlich profilierte sich dieser Sozialismus vorrangig als Absage an den Staatssozialismus einerseits und den Marktkapitalismus andererseits. In dem Weder-noch der antikapitalistischen, DDR-kritischen, zum Teil auch frauenbewegten Linken waren durchaus Konturen einer Alternative jenseits der Konfrontation zwischen Nato und Ostblock erkennbar. Die Alternative bezog ihre Kraft aber mehr aus dem, was man nicht wollte, als aus positiven Bestimmungen der anderen, besseren Gesellschaft, der anderen, besseren Demokratie, der anderen, besseren Ökonomie, der anderen, besseren Lebenskultur.
Dann aber brach das eine Modell der Negativabgrenzung weg, und alle waren mit einem triumphalistisch inszenierten Sieg des Kapitalismus konfrontiert, der sich dann auch bald seiner Verkleidung als soziale Marktwirtschaft entledigte. Gerade aktuell hat die Kapitalismuskritik Hochkonjunktur, aber die Linke hat allem Anschein nach keine konkrete Utopie, die glaubwürdig Wege in eine andere Zukunft aufzeigt. Geht es noch um Sozialismus, oder geht es jetzt eher um Demokratie, oder geht es nur noch um neue Steuern auf Kapitalströme?

Aber man war damals doch auch erleichtert: Niemand musste mehr gegen den Verdacht ankämpfen, die Linke wolle Verhältnisse wie in der DDR. So gesehen war der Zusammenbruch auch eine Entlastung.
Das hatte ich damals auch gehofft. Mein Eindruck ist jedoch ein anderer: Gerade das politische Spektrum, von dem ich eben gesprochen habe, die sogenannte undogmatische Linke, der ich mich selbst auch immer zugeordnet habe, hat sich als politische Kraft weitgehend aufgelöst. Die Leute privatisieren, haben neoliberale Positionen übernommen oder tendieren neuerdings wieder zu einem orthodox antikapitalistischen Denken nach dem Muster «ihr da oben und wir da unten», die guten 99 Prozent gegen das böse eine. Das ist für mich Rückzug ins Einfache und Übersichtliche, Flucht aus der Komplexität und Ambivalenz der Verhältnisse und Dynamiken, mit denen wir konfrontiert sind. Es wird oft argumentiert, der Kapitalismus habe sich seit 1990 eben entsprechend entwickelt und zeige nun seine hässliche Fratze. Aber das ist zu einfach.

Rührt die Verunsicherung und Lähmung der Linken noch von diesem Schock?
Er ist meines Erachtens eine der wesentlichen Ursachen dafür. Und die Wirkung dauert bis heute an, zumal es bisher keine offene Aufarbeitung dieser epochalen Ereignisse gab, die für Millionen Menschen tatsächlich mehr Freiheit, aber auch mehr Ungleichheit und Unsicherheit und zugleich eine grosse Niederlage für die Linke mit sich brachten. Die Linke müsste sich beispielsweise die Frage stellen, welchen Anteil sie an diesem Desaster hatte – auch etwa mit falschen Deutungsmustern gesellschaftlicher Entwicklungen, mit denen sie sich auch heute noch selbst kasteit.
Und sie vernachlässigt das Aufspüren von Gegentendenzen. Sie sollte herausarbeiten, wo in dieser kapitalistischen Welt Widersprüche sind, bei denen eingehakt werden kann, wo Gegentendenzen sind, die verstärkt werden können. Das ist einer der Gründe, warum ich bekennende Feministin bin. Weil ich überzeugt bin, dass diese Gegentendenzen eher mit weiblichen Lebensentwürfen, -erfahrungen und -perspektiven verbunden sind als mit männlichen.

Können Sie das konkretisieren?
Die Linke kritisiert in Deutschland und anderswo zu Recht den Abbau öffentlicher Dienstleistungen, übersieht dabei aber, dass zugleich das Recht auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr eingeführt wurde. Teile der Rentenversicherung wurden privatisiert, aber gleichzeitig wurde die Pflegeversicherung eingeführt. In vieler Hinsicht nimmt die Ungleichheit zu, zugleich lässt sich die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen immer schwerer legitimieren. Ich will das alles nicht schönreden. Aber wenn die Linke den Leuten mit ihren Deutungsmustern immer nur erzählt, wie schlimm alles ist, dann wirken dieser Schock von vor 25 Jahren und die Deutung der Konservativen, die alle Alternativen für gescheitert halten, ja noch stärker.

Die Linke verkennt also mit ihrem zu düsteren Blick das Potenzial der Veränderung?
Insoweit als Teile der Linken nur das «Elend der Welt» auch in den reichsten Ländern dieser Welt mit zumindest formal demokratischer Regierung und doch auch immer noch wirksamen sozialen Standards sehen, kann daraus kaum wirkmächtiges politisches Handeln entstehen.

Könnte der weibliche Blick auf Arbeit und Leben die Linke aus der Defensive bringen?
Der weibliche – oder besser: der feministische – Blick steht gegen eine hegemoniale Konstellation, die auch etwas mit Neoliberalismus, vor allem aber mit Männlichkeit als dem Modell und dem Massstab des Menschen schlechthin zu tun hat. In der Forschung bezeichnen wir diese Konstellation, die auch in der Linken dominant ist, als Androzentrismus, als hegemoniale Männlichkeit oder auch mit Pierre Bourdieu als «männliche Herrschaft».
Dabei geht es um Herrschafts- und Gewaltverhältnisse zwischen Männern und Frauen, aber auch um die Hierarchien und die Gewalt unter Männern. Hegemoniale Männlichkeit ist ein Modus der Organisation von Wirtschaft, Arbeit, Leben, Gesellschaft, Politik, Kultur und gleichzeitig eine oft unbewusst wirksame Norm persönlicher Identität im zwanghaften Dualismus von Männlichkeit und Weiblichkeit. Im gesellschaftlichen Massstab geht es um einen bestimmten Blick auf Arbeit, um einen bestimmten Begriff von Politik und Freiheit, um einen bestimmten Habitus von Vernunft, eine bestimmte Perspektive auf Macht.
Mir geht es mit meinem Feminismus also gar nicht in erster Linie um vordergründige Gleichberechtigung. Denn ich kenne sehr viele Frauen, die auf sehr unterschiedliche Weise als geradezu perfekte Agentinnen männlicher Herrschaft fungieren. Individuell bleibt Frauen und Männern in vielen Bereichen auch gar nichts anderes übrig, eben weil männliche Herrschaft dort nur sehr geringe Spielräume für subversiven Eigensinn lässt. Das gilt leider auch für beträchtliche Teile der Linken einschliesslich der Gewerkschaften sowie auch und gerade für linksradikale Gruppierungen.

Können Sie das näher erläutern?
Es herrscht noch immer ein Arbeitsbegriff, der sehr stark auf gegenständliche Produktion und Technik beziehungsweise – wie es Karl Marx formuliert – auf den «Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur» ausgerichtet ist. Tatsächlich ist Arbeit aber etwas, das zwischen Menschen stattfindet. Das ist ja nicht nur in den klassischen Bereichen so: Erziehung, Soziales, Bildung, Kultur, Politik, Haushalt, Handel, Gesundheit. Das ist auch in der Industrie und in der klassischen Erwerbsarbeit so. Eine Tätigkeit wird nicht allein dadurch zur Arbeit, das sie im Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur stattfindet, sondern vor allem dadurch, dass sie auf Bedürfnisse von anderen Menschen und die Anerkennung durch andere Menschen angewiesen, also in erster Linie nicht in ein technisches, sondern in ein soziales Verhältnis eingespannt ist.

Wo liegt das Problem dieses produktivistischen Arbeitsbegriffs? Der muss doch nicht abgelöst werden, beide Begriffe können doch nebeneinander bestehen.
Richtig ist: Wir brauchen ein plurales, vielfältiges Verständnis von Arbeit ebenso wie von Ökonomie – und zwar sowohl analytisch, also im Hinblick auf Arbeit und Ökonomie, wie auch konzeptionell, also im Hinblick auf die Arbeit und die Ökonomie der Zukunft, wie wir sie gestalten wollen. Wir brauchen auch ein Verständnis vom Zusammenhang, in dem die verschiedenen Arbeiten und die Ökonomie stehen: Was Arbeit von anderen Arten menschlicher Tätigkeit unterscheidet, mit welcher Art von Arbeit wir warum den Anspruch auf Entlohnung verbinden, mit welcher Art von Arbeit warum andere Formen gesellschaftlicher Anerkennung verknüpft sein sollen. Der klassische Arbeitsbegriff setzt die Industriearbeit als Modell und Massstab von Arbeit schlechthin. Das ist schon allein deshalb problematisch, weil das Volumen der Industriearbeit hierzulande immer weniger wird. Die Zeit, in der man einem Industriearbeiter nur noch genauso selten begegnet wie heute schon einem Bauern oder einer Bäuerin, ist nicht mehr sehr weit entfernt.
Wir brauchen heute einen Arbeitsbegriff, der Arbeit in erster Linie als ein Verhältnis von Menschen versteht, also als Tätigkeit für andere. Der Bezug auf andere kann dabei den Charakter von Austausch, Kooperation und Anerkennung haben, aber auch den von Ausbeutung, Entfremdung und Fremdbestimmung. Unter den gegebenen Umständen dominiert in vielen Tätigkeitsfeldern das herrschaftliche Moment der sozialen Kooperation. Dennoch hat Arbeit – verstellt und verdreht – immer auch dieses zweite Gesicht der Kooperation. Und genau darin liegt ihr Potenzial als soziale Kraft im Prozess der Menschwerdung des Affen – wie dies Friedrich Engels treffend formuliert hat.

Der männliche Blick schaut also vor allem auf die Arbeit der Maschinen und mit den Maschinen, sodass ihm das Wesentliche entgeht?
Er schaut zu eng und führt so auch zu falschen Kontroversen. Die einen reden über das Ende der Arbeit und die anderen über die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung. Beides geht nicht und ist auch gar nicht wünschenswert.

Das müssen Sie jetzt erläutern.
Die Forderung nach Wiederherstellung der Vollbeschäftigung ist schon allein deshalb problematisch, weil der Zustand, der darin als «Vollbeschäftigung » unterstellt wird, für Frauen noch nie gegolten hat – so wie auch das sogenannte Normalarbeitsverhältnis für Frauen noch nie «normal» war. Ich habe den Begriff der kooperativen Demokratie als Ersatz für den der Vollbeschäftigung vorgeschlagen. Da ist dann auch gleich klar, dass es nicht um die Wiederherstellung einer durchaus etwa im Hinblick auf die Geschlechterverhältnisse problematischen Situation in der Vergangenheit geht, sondern um die Entwicklung einer neuen Ordnung der Arbeit. Immerhin wird dies schon seit einiger Zeit auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund gefordert.
Die Parole vom Ende der Arbeit und die Forderung nach einem Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft hatten den guten und richtigen Sinn einer Problematisierung des modernen Arbeitsmythos, der im Motto «jede Arbeit ist besser als keine» seinen Ausdruck fand. Das letzte Buch, das André Gorz vor seinem Tod zu diesem Thema geschrieben hat, trug den Titel «Arbeit zwischen Misere und Utopie». Für ihn war die Utopie vor allem «Befreiung von der Arbeit», insbesondere in der Form radikaler Arbeitszeitverkürzungen. Aber wenn man den Text genau liest, dann ging es ihm durchaus auch um Befreiung in der Arbeit, die dann dabei ihren Charakter als Lohnarbeit, auch als Hausarbeit im gegenwärtigen Sinn, verliert.

Fortschritt gibt es für Sie also nur, wenn der männliche Blick zurückgedrängt wird?
Ja. Der Unterschied wird auch deutlich am Gehalt und am Stellenwert von Freiheit. Das Freiheitsverständnis des männlichen Blicks orientiert sich an einer totalen Unabhängigkeit: von nichts und niemandem abhängig sein. Das ist aber eine Fiktion – und nicht etwa eine Utopie. Die Fiktion absoluter Freiheit führt dazu, dass Freiheit nur scheinbar in Form von Herrschaft zu erringen ist. Ich muss möglichst viel Macht haben, um mir einbilden zu können, frei und unabhängig zu sein. Dieser verunstaltete Freiheitsbegriff korrespondiert übrigens mit einem Bild von Männlichkeit als der Ikone der Freiheit und von Weiblichkeit als dem Unfreien schlechthin, dem sich Unterwerfenden, dem Selbstlosen. Dies, obwohl «Freiheit» in ihrer figürlichen Darstellung oft von Frauen repräsentiert wird.
Das feministische Freiheitskonzept geht demgegenüber davon aus, dass das Bedürfnis nach Freiheit sehr eng verbunden ist mit dem Wunsch nach Anerkennung. Menschen wollen beides: ihr eigenes Leben leben und darin anerkannt sein von den anderen. Und sie anerkennen wiederum die Freiheit der anderen zu einem anderen Leben als dem, das man selbst führt. Die Dialektik von Freiheit und Anerkennung führt mich auf der gesellschaftspolitischen Ebene zu der entscheidenden Erkenntnis, dass politische Freiheit nur lebbar ist mit sozialer Gerechtigkeit.

Wer arbeitet daran, den männlichen zugunsten des weiblichen Blicks zurückzudrängen?
Nun ja, die Frauenbewegung findet heute in anderen Formen als früher statt, aber sie findet weiterhin statt. Zum Teil verfolgt sie auch andere Anliegen, die dem realen Wandel der Geschlechterverhältnisse, dem Wandel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen oder auch neuen Einsichten und Ansichten folgen. Die Verquickung von Kapitalismus und Patriarchat, von Herrschaft und Männlichkeit ist aber nicht nur für Frauen problematisch, sondern auch für viele Männer. Und für Menschen, die sich nicht in dieses Schema männlich/weiblich fügen können oder wollen oder die ganz generell nach Alternativen zum Status quo suchen und erkannt haben, dass es dabei auch ganz entscheidend auf den sogenannten subjektiven Faktor ankommt. Viele suchen heutzutage nach neuen Orientierungen ihrer individuellen Identität ebenso wie ihres politischen Engagements jenseits der traditionellen Muster von Männlichkeit und Weiblichkeit und jenseits alter Kontroversen à la Staat versus Markt, Reform oder Revolution, Klassenkampf oder Konformismus.
Für mich ist Feminismus so etwas wie der weiter gehende Antrag auf Gerechtigkeit und Emanzipation – auch zum Beispiel in globaler Perspektive. Für viele meiner Studentinnen und Studenten ist es sehr attraktiv, die Kritik an Gleichberechtigungsdefiziten zu verbinden mit einem neuen Blick auf Freiheit und Gleichheit, Arbeit und Gerechtigkeit, Transformation und Revolution. Der feministische Blick ist deshalb attraktiv, weil er das Hirn öffnet für Fragen und Perspektiven, die ihm sonst verschlossen bleiben. Dabei geht es nicht nur um einen neuen Blick auf die Welt, sondern auch um eine andere Praxis. Die US-amerikanische Feministin Nancy Fraser hat das mal so ausgedrückt: Es geht darum, dass mehr Männer so werden, wie viele Frauen heute schon sind.

Was heisst das konkret?
Ich will es an einem Beispiel erläutern: Zu meinem grössten Bedauern haben die Gewerkschaften die aktive Arbeitszeitpolitik im Sinn kontinuierlicher Arbeitszeitverkürzung weitgehend aufgegeben. Die sogenannte Normalarbeitszeit stagniert, wird zum Teil sogar wieder verlängert. Was passiert real? Der Zuwachs der Frauenerwerbstätigkeit vollzieht sich fast ausschliesslich in Form von Teilzeitarbeit.

Freiwillig?
Freiwillig kann man das nicht nennen, weil die meisten Frauen vielfältigen Zwängen ausgesetzt sind, die aus der Organisation der Erwerbstätigkeit und der Privatsphäre resultieren, aber auch daraus, dass Männer immer noch nicht ihren Anteil an der privaten Sorge ums eigene Leben, um andere Menschen, die eigenen Kinder, Eltern, Nachbarn, Freundinnen übernehmen. Aber es sind eben nicht nur Zwänge, die Frauen zu dieser Entscheidung bringen. In diesen massenhaften Entscheidungen steckt vielmehr auch ein Moment widerständiger Praxis, von Eigensinn und individueller Autonomie.
Frauen verweigern sich einer Vollzeitarbeit, mit der sie sich ganz den Zwängen von Karriere und Konkurrenz ausliefern würden. Sie sagen aber auch Nein zur Beschränkung des eigenen Lebens auf die häusliche Sphäre. Es geht ihnen um Vereinbarkeit unterschiedlicher, gleich wichtiger Lebensbedürfnisse und nicht um die Beschränkung auf das eine oder das andere. Es gibt keine weibliche Präferenz für Teilzeitarbeit, sondern für kürzere Arbeitszeiten. Die lassen sich aktuell aber nur in der Form der Teilzeitarbeit realisieren. Die Teilzeitarbeit ist nicht wirklich freiwillig; sie demonstriert dennoch den praktischen Protest gegen geltende – und von Männern aktuell eben nicht infrage gestellte – Zeitregimes. Es gibt allerdings leider auch noch keine grosse starke Frauenbewegung, die kollektiv eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung einfordert.

Und mit diesem weiblichen Blick reüssiert die Linke?
Auch wenn die Partei Die Linke ziemlich frech das Linkssein für sich reklamiert, so muss sich doch überhaupt erst wieder neu klären, was das ist: links. Ich weiss nicht, ob alle, die sich da noch irgendwie zugehörig fühlen, mit meinem Vorschlag – links ist egalitär, liberal und solidarisch und steht gegen elitär, autoritär und asozial – einverstanden sind. Ob und wie die Linke jemals wieder als Linke reüssieren wird, weiss ich nicht. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass die Linke entweder feministisch wird oder nicht mehr links oder irrelevant sein wird.

 

Arbeit, Zukunft, Feminismus
Die Politologin Ingrid Kurz-Scherf, 1949 in Trier geboren, hat als feministische Marxistin eine ebenso kreative wie ungewöhnliche Laufbahn in Wissenschaft, Politik und Gewerkschaften absolviert. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften und promovierte an der TH Aachen über «Theorie, Ideologie und Empirie individueller Lohnunterschiede» – ein Thema, das sie nicht mehr aus den Augen verloren hat. Ihre wichtigsten beruflichen Stationen: Habilitation an der FU Berlin; langjährige Leiterin des Tarifarchivs beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) des Deutschen Gewerkschaftsbunds; Staatssekretärin für Arbeits- und Frauenpolitik im Saarland; seit 2001 Professorin für Politische Wissenschaften (Schwerpunkt: Politik und Geschlecht) an der Philipps-Universität Marburg. Die feministische Arbeitsforschung und der feministische Eigensinn standen immer im Zentrum ihrer wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten. Auch jenseits der Fachkongresse öffentlich zu intervenieren – das ist eines ihrer Anliegen. In den vergangenen Jahren veröffentlichte sie – auch zusammen mit anderen – etwa zu den Themen «Macht oder ökonomisches Gesetz? Zum Zusammenhang von Krise und Geschlecht», «Zukunft der Arbeit» und «Feminismus: Kritik und Intervention». Bereits im Jahr 1987 gab sie hellsichtig das Buch heraus: «Wem gehört die Zeit? Ein Lesebuch zum 6-Stunden-Tag».